Performancekunst aus Osteuropa

Die Republik ist kein geordneter Raum

Ein Künstler trinkt sich ins Koma, ein anderer schlüpft in hunderte Identitäten. Eine Ausstellung in Warschau zeigt jetzt die radikalsten Performances Osteuropas. Warum hat kaum jemand je von ihnen gehört?

Ein Mann sitzt an einem Tisch und trinkt. Stundenlang. Vor ihm eine Flasche Rum und eine Flasche Wodka. Immer wieder greift er zu, schüttet den Inhalt in einen Becher und zwingt sich, das Gemisch herunterzuschlucken. Er wird dabei zunehmend erschöpfter, immer zittriger, bis er schließlich kollabiert. Im Krankenhaus wird er in ein künstliches Koma versetzt. Er überlebt nur knapp – mit einer Nahtoderfahrung, die er im Nachhinein als kathartisch beschreibt.

"Globalisation / Globalizacija" heißt die Arbeit des kroatischen Performance-Künstlers Slaven Tolj, für die er in einer New Yorker Galerie Spirituosen zu einer letztlich giftigen Mixtur vermischte und bis zum Zusammenbruch trank. Ein perfider Selbstversuch, der auch heute, 24 Jahre nach seiner Aufführung, noch durch seinen makabren Zynismus überzeugt.

Damit reiht sich die Arbeit thematisch in die aktuelle Ausstellung des Museums für Moderne Kunst in Warschau ein: "The Cynics Republic – Plac Defilad" zeigt performative Arbeiten und Happenings von den 1960er-Jahren bis heute – von vorwiegend osteuropäischen Künstlerinnen und Künstlern. Kuratiert wurde die Schau von Pierre Bal-Blanc, einem französischen Ausstellungsmacher und Spezialisten für Performancekunst. Sie vereint Werke aus dem Bestand des Museums in Warschau sowie der Wiener "Kontakt"-Sammlung.

Revolutionäre Studien über Identität, Geschlecht und Kultur

Es ist vor allem die unkonventionelle Präsentation der Videos, die die Ausstellung besonders macht. Die "zynische Republik", das ist ein stockwerkübergreifender Gerüstbau im Treppenbereich des Hauses. Angelehnt an Michel Foucaults Panoptikum steht er wie ein Turm in der Mitte des Raumes und ist zu allen Seiten hin geöffnet. Auf jeder Etage der Konstruktion sind Bildschirme angebracht, auf denen Performances gezeigt werden. 

Durch die verschiedenen Filme, die gleichzeitig abgespielt werden, entsteht eine wuselige Geräuschkulisse. Auch gehen die Bilder ineinander über: Die Videos laufen nicht in geordneten Loops, sondern wechseln sich in unregelmäßigen Abständen ab. Schon hier zeigt sich: Die "Republik" ist kein geordneter Raum. Vielmehr ist sie die Zusammenstellung vieler unterschiedlicher künstlerischer Arbeiten, die lange nicht gezeigt wurden.

Da ist etwa der polnische Künstler Tomasz Machciński, der zehn Jahre vor der US-amerikanischen Kunst-Ikone Cindy Sherman in immer neue Identitäten schlüpfte und sich, polnische Lieder schmetternd, in seinen Verkleidungen filmte. In Westeuropa kennt heute kaum jemand seinen Namen – dabei sind seine Videoporträts revolutionäre Studien über Identität, Geschlecht und Kultur.

Was ist überhaupt Wahrheit?

Oder Sanja Iveković, die in ihrer Reihe "Inter Nos" die Beschaffenheit von Bildern hinterfragt. Darin streicht sie über Gesichter und Körper – manchmal durch Glas von ihnen getrennt, manchmal auf Bildschirme projiziert. Die Künstlerin stellt damit Fragen wie: Was ist real? Was ist Reproduktion? Und was ist überhaupt Wahrheit?

Ähnlich wie Machcińskis Arbeiten erlangten auch viele andere gezeigte Performances selbst nach dem Ende des Kalten Krieges keine internationale Aufmerksamkeit. Vermutlich, weil der Eiserne Vorhang in den Köpfen vieler Ausstellungsmacher und -macherinnen noch präsent war.

Das möchte das Museum jetzt ändern. Der historische Gegensatz von Ost und West spielt dabei immer wieder eine Rolle. Und das bereits architektonisch: Der horizontale White-Cube-Bau des Museums für Moderne Kunst wirkt wie eine provozierende Ansage an den imposanten Kulturpalast, der sich hinter der Glasfassade erhebt. Der 1955 von Stalin "gespendete" Prachtbau, der sich 30 Stockwerke hoch in den Himmel reckt, prallt mit seiner sowjetischen Prunkarchitektur auf die kühle Nüchternheit des neuen Museumskubus. Die Botschaft ist deutlich: Die Kunst, die hier in Warschau gezeigt wird, soll der in New York oder London in nichts nachstehen. Sie soll sichtbar gemacht und einem internationalen Publikum vermittelt werden.

Muss lang vergessene Kunst gerettet werden?

Trotz dieser Ambitionen will die Ausstellung nicht belehren. Es geht weder um die Kanonisierung osteuropäischer Performancekunst noch um eine Klassifizierung oder Katalogisierung. Gerade durch die Vielzahl unterschiedlicher Videos und Positionen, eingebettet in die vertikale Gerüstarchitektur, gelingt dieser Ansatz. Schade ist jedoch, dass es ausgerechnet bei einer Ausstellung über osteuropäische Kunst in Warschau eine österreichische Sammlung und einen französischen Kurator braucht. Dessen Name taucht sogar im Untertitel auf: "A score by Pierre Bal-Blanc" heißt die "zynische Republik" mit Zweitnamen.

Hier stellt sich die altbekannte Frage nach Aneignung und Identität – und auch nach Expertise. Warum sollte ein Fachmann auf dem Gebiet keine Ausstellung über osteuropäische Performancekunst machen dürfen? Und warum sollte Kunst, die sonst womöglich in Archiven verstauben würde, nicht gekauft und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? Schließlich haben die Arbeiten internationale Aufmerksamkeit verdient. Gleichzeitig sollte gefragt werden, ob nicht auch die Institutionen vor Ort in der Lage sind, sich selbst mit ihrer Kunstgeschichte auseinanderzusetzen – und ob nicht eine Umdeutung stattfindet, wenn westliche Akteure osteuropäische Kunst unter ihrem eigenen Namen präsentieren.

Die Ausstellung in Warschau ist daher nicht nur eine starke Schau über Performances aus Osteuropa. Sie wirft auch hochaktuelle Fragen nach Sichtbarkeit, Deutungshoheit und Verantwortung auf: Muss lange vergessene Kunst gerettet werden? Und wenn ja – von wem? Wie sehr brauchen osteuropäische Kunstschaffende heute noch die Schultern westlicher Expertinnen und Experten? Die Werke der Ausstellung zeigen: Gar nicht so sehr.