Siegeszug des QR-Codes

Das schwarz-weiße Quadrat

Egal, wie man es findet: 2021 ist der QR-Code zum Schlüssel für Teilhabe am öffentlichen Leben geworden. Als visuelles Phänomen ist er das Gegenteil von Kunst - erfüllt aber gleichzeitig einen alten Traum der abstrakten Malerei 

Noch vor einem Jahr wäre den meisten Menschen die Vorstellung, auf Schritt und Tritt eine quadratische, schwarz-weiße Abstraktion bei sich zu tragen, ohne die ihnen der Zutritt zu den meisten Orten des öffentlichen Lebens verwehrt wird, ziemlich absurd vorgekommen. Inzwischen zückt die Mehrheit der Deutschen mehrmals täglich einen mosaikartigen Pixelquader, und der Rest regt sich lautstark darüber auf, dass auf staatliche Verordnung ein solcher von ihnen verlangt wird.

Neben vielen anderen Dingen könnte das Jahr 2021 auch als jenes in die Geschichte eingehen, in dem sich der QR-Code endgültig im westeuropäischen Alltagsleben eingenistet hat - und gewissermaßen zum bedeutendsten Bild der Gegenwart geworden ist. Zwar wurde der zweidimensionale Code bereits 1994 von einer japanischen Firma entwickelt, um die Logistik in der Automobilproduktion zu vereinfachen, doch erst in der Pandemie, in der alles "kontaktlos" ablaufen und überall "eingecheckt" werden sollte, erlebte die grafische Darstellung von Links, Text oder Ziffern ihren endgültigen Durchbruch in den Mainstream.

Ob dieses schon jetzt ikonische schwarz-weiße-Quadrat, das als Matrix beispielsweise den Impfstatus gegen Covid-19 darstellt, einen Eingriff in die individuelle Freiheit darstellt, lässt sich sicher diskutieren. Als ästhetisches Phänomen ist es aber hochspannend, denn der QR-Code als Bild ist paradoxerweise gleichzeitig der Inbegriff für den Mythos abstrakter Kunst und das Gegenteil davon. Aber der Reihe nach.

Bilder, die nur noch für Maschinen sind

Wie die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl 2018 in ihrem Essayband "Duty Free Art" feststellte, ist ein zunehmender Teil von digitalen Bildern heute gar nicht mehr für das menschliche Auge gedacht, sondern nur noch für Maschinen dechiffrierbar. "Nichts Erkennbares zu sehen ist die neue Normalität", heißt es in dem Text "Ein Meer von Daten: Apophänie und Muster(fehl)erkennung". Und weiter: "Informationen werden als eine Menge von Signalen übermittelt, die von den Sinnesorganen des Menschen nicht aufgefangen werden können. Wahrnehmung findet heute in weiten Teilen auf der Ebene der Maschinen statt." Auch der Künstler Trevor Paglen bezeichnete es 2020 in einem Interview mit Monopol als "dramatischen Schritt" in der Geschichte des Bildes, dass nun kein Mensch mehr nötig sei, um es zu interpretieren. Und im Umkehrschluss, dass manche Bilder für den technisch leidlich versierten Menschen nur eine willkürliche Anordnung von Pixeln sind, während sie für Maschinen eindeutige Informationen enthalten.

Ein gutes Beispiel dafür ist das zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International entwickelte Trikot, mit dem der norwegische Fußball-Erstligist Tromsø IL Anfang Dezember auf dem Platz auflief. Auf den ersten Blick waren die blau-roten Shirts mit einem abstrakten Punktemuster versehen. Zückte man jedoch sein Smartphone, wurde man durch den textilen QR-Code auf eine Website geleitet, auf der es um Menschenrechtsverletzungen in Katar geht. Dort soll Ende 2022 die Fußball-WM stattfinden, und in der norwegischen Sportwelt wurde eine heftige Debatte um einen eventuellen Boykott des Turniers geführt - zumindest, bis die Nationalmannschaft der Herren in der Qualifikationsphase ausschied und nun aus sportlichen Gründen nicht teilnehmen wird.

Das codierte Trikot verkörpert verschiedene Ebenen von Realität. Mit bloßem Auge verfolgen Zuschauerinnen und Zuschauer ein "normales" Fußballspiel, während virtuell eine politische Debatte angezettelt wird, die dann wieder in die physische Welt zurückschwappt. 


Insofern ist der QR-Code das Gegenteil von einem Bild im Kunstkontext. Auch Künstlerinnen und Künstler haben sich immer wieder für geometrische Ordnungen, Raster und Mosaike interessiert (derzeit beispielsweise zu sehen bei Toba Khedoori im Fridericianum in Kassel). Aber diese Motive sind meist als Herausforderung für die menschliche Hand und Stimulation der menschlichen Wahrnehmung gedacht. Wie unter anderem die Ausstellung "Rasterfahndung" im Kunstmuseum Stuttgart (2012) herausarbeitete, spielen in der konkret-konstruktiven Kunst sowohl die Faszination für Wiederholung als auch ein Interesse am Raster als Grundlage von Gesellschaft, Infrastruktur und Datenerfassung eine Rolle. Was unüberschaubar und überfordernd scheint, wird in verlässlichere Formen gebracht. Dabei schwingt oft mit, wie Technik und Maschinen unsere Wahrnehmung prägen. Aber es geht eben um unsere Wahrnehmung mit all ihren Defiziten, nicht um die der Maschinen. 

Als Kunstwerke sind QR-Codes tendenziell langweilig, eben weil sie eine so eindeutige Botschaft enthalten. Andererseits könnte man den Code jedoch als ein interessantes Beispiel für die Bildakttheorie interpretieren. Diese beschäftigt sich mit der handlungsstiftenden Wirkung von Bildern im weiteren Sinne und wurde unter anderem vom Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp geprägt.

So wie Worte als Sprechakt konkrete Folgen haben können ("Ich erkläre die Sitzung für eröffnet"), wird darin auch Bildern eine Autonomie außerhalb der subjektiven Wahrnehmung ihrer Betrachterinnen und Betrachter zugesprochen. Will man diese Überlegungen, die in einer digitalisierten Welt zunehmend wichtiger werden, auf den QR-Code übertragen, muss man natürlich berücksichtigen, dass das in der Pandemie so wichtig gewordene Pixelraster unter bestimmten Bedingungen entsteht. Man muss sich zum Beispiel impfen oder testen lassen, dann wird diese Information in den binären Code aus schwarzen und weißen Partikeln übersetzt. Doch ist dies einmal geschehen, lässt sich kaum bestreiten, dass die Grafik Realität nicht nur abbildet - sondern sie durch den gestatteten oder verwehrten Zugang zu bestimmten Räumen auch erzeugt.

"Die nackte Ikone" unserer Zeit

Als Schnittstelle zwischen der physischen und der virtuellen Welt könnte man den QR-Code sogar als Vollzug eines alten Traums der abstrakten Kunst verstehen. Die Abstraktion wurde oft als Portal zu anderen Welten interpretiert, als Türöffner und Möglichkeit für Transformation. Egal, wie man das nun findet: Im Jahr 2021 konnte ein einzelner Code in der Hosentasche tatsächlich Orte ermöglichen oder verschließen, er ist Auslöser für Anerkennung und Ablehnung gleichermaßen, und so schnell wird die Macht des Schwarz-Weiß-Sehens wohl auch nicht wieder schwinden.   

"Ich habe die nackte Ikone meiner Zeit gemalt", sagte der Künstler Kasimir Malewitsch 1918 über sein "Schwarzes Quadrat". Ob wir wollen oder nicht: Eine gestalterisch nackte Ikone der Gegenwart ist das "Schwarz-weiße Quadrat" QR-Code inzwischen auch.