"Reichstags-Verhüllung" in Berlin

Das hat Christo nicht verdient

Der "Wrapped Reichstag" von Christo und Jeanne Claude war schon 1995 Spektakelkunst. Die digitale Neuauflage in Berlin ist jedoch eine ästhetische Frechheit. Und sendet ein fragwürdiges Signal zum Thema Demokratie

Zum Anfang dieses Textes ein kleiner disclaimer: Die Autorin der folgenden Zeilen ist gar kein Christo-Fan; sie ließ sich 2018 sogar dazu hinreißen, dem Künstler und seiner Partnerin Jeanne Claude in Monopol einen Hang zum "kulturellen Wettrüsten" zu attestieren. Das Paar, das seit den 60er-Jahren vor allem durch das Verpacken von Objekten, Gebäuden und ganzen Landschaften berühmt wurde, habe eine einst gute Idee dem Spektakel geopfert. 

Doch im Sommer 2025, 16 Jahre nach Jeanne-Claudes und fünf Jahre nach Christos Tod, muss man die beiden unbedingt in Schutz nehmen. Denn das, was da gerade in Berlin als Hommage an den "Verhüllten Reichstag" verkauft wird, haben sie wirklich nicht verdient. 

Zum 30. Jahrestag der spektakulären Stoffinstallation von 1995 (auch bekannt als "Loveparade für Studienräte") will Berlin einem seiner größten Kunstmomente der Nachwendezeit gedenken. Dies geschieht noch bis zum 20. Juni, indem jeweils ab 21.30 Uhr ein digitaler Faltenwurf auf das deutsche Parlamentsgebäude projiziert wird - allerdings nur auf die Fassade, die nach Westen zeigt. Über den symbolischen Gehalt dieser wahrscheinlich pragmatischen Entscheidung sollte man besser nicht zu intensiv nachdenken.

Flachbildschirm statt Silberstoff

Initiiert haben die Hochleistungs-Projektion unter anderem der Kulturmanager Peter Schwenkow und der Unternehmer Roland Specker, die schon Unterstützer des Original-"Wrapped Reichstag" waren. Auch die Christo and Jeanne-Claude Foundation unter dem Künstlerneffen Vladimir Yavachev war beteiligt. Warum die Nachlasshüter allerdings davon ausgehen, der Geist von 1995 lasse sich auch nur ansatzweise durch Beamer-Bilder heraufbeschwören, bleibt (das Wortspiel drängt sich auf) schleierhaft.

Bei der Verhüllung des historisch aufgeladenen Gebäudes wurden vor 30 Jahren 100.000 Quadratmeter aluminiumbedampfter Polypropylen-Stoff und rund 15.000 Meter Seil verwendet, die von Dutzenden Fassadenkletterern an ihren Platz gezurrt wurden. Diese materielle Dimension des Werks war für Christo und Jeanne-Claude zentral. Nicht umsonst verteilten sie kleine silbrige Quadrate des Gewebes, die viele Zuschauer von damals noch heute als Souvenirs aufbewahren.

Statt einer erhabenen Architektur-Skulptur, die nur noch die groben Konturen ihres Innenlebens preisgibt, steht im Berliner Regierungsviertel nun ein Kunst-Zombie mit dem Charme eines Flachbildschirms. Trotz der gepriesenen Spitzentechnik schaffen es die Projektoren nicht, eine Illusion von Stofflichkeit auf die Fassade zu zaubern. Eher sehen die leuchtenden Steinwände ein wenig verknittert aus. 

"Nein, Christo lässt sich nicht nachmachen"

In der "Zeit" schreibt Hanno Rauterberg, dass diese ästhetische Unterwältigung auch etwas Tröstliches habe, weil sie die Bedeutung des Originals noch verstärke. "Nein, Christo lässt sich nicht nachmachen. Von Christo lässt sich nur schwärmen", heißt es in dem Artikel. 

Aber diese etwas eindimensionale Nostalgie zeigt auch, dass in Berlin offenbar keiner Lust hatte, sich wirklich Gedanken über das Erbe des "Wrapped Reichstag" zu machen. Man hätte ja beispielsweise auch ein Kunstprojekt initiieren können, das sein Vorbild nicht nur imitieren, sondern reflektieren will. 

Wie das gehen kann, zeigte gerade die Kunsthalle Bern, die 1968 als erstes Gebäude von Christo und Jeanne Claude verhüllt wurde. Bis Anfang Juni war dort nun eine Installation des ghanaischen Künstlers Ibrahim Mahama zu sehen. Dieser verpackte das Haus mit gebrauchten braunen Jutesäcken, in denen unter anderem Kakaobohnen transportiert werden. Die Christo-Referenz ist bei Mahama deutlich zu erkennen, trotzdem erweitert er das Konzept und lenkt den Blick auch auf den globalen Handel und koloniale Ausbeutung.

Die projizierte Imitation ist kein Innehalten

Die Berliner Projektion überstrahlt dagegen buchstäblich jeden historischen Kontext - dabei ist es gerade die Verortung in der deutschen Geschichte, die den "Wrapped Reichstag" bei allem Spektakel-Charakter so relevant macht. 1995 war die deutsche Einheit gerade einmal fünf Jahre alt, und das Gebäude stand noch kuppellos, sichtbar kriegsversehrt und etwas verloren im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Ost und West. Der Publizist Eduard Beaucamp nannte es 2005 rückblickend einen "Sandsteinkoloß im Niemandsland zwischen den feindlichen Weltsystemen".

Diesem Problembau gönnten Christo und Jeanne Claude mit ihrem Stoffkleid eine Atempause und zwei warme Wochen der Leichtigkeit. Auch die Enthüllung am Ende des Projekts war bedeutungsvoll: enthielt sie doch das Versprechen auf etwas Neues. Noch 1995 begann der Umbau des Reichstags durch Norman Foster, seit 1999 tagt dort der deutsche Bundestag. Es wäre interessant zu fragen, was von diesem künstlerischen Sommermärchen geblieben ist. Doch die Berliner "Hommage" ist eben kein Innehalten. 

Statt auf ein Gebäude im Umbruch werden die Stoffbahnen nun auf ein funktionierendes Parlament eines demokratischen Staates projiziert. Und das in einer Zeit, in der die in Teilen rechtsextreme AfD systematisch das Vertrauen in die staatlichen Institutionen untergraben will und immer mehr Menschen im Parlament undurchsichtige Machenschaften vermuten. In dieser Situation eine Verhüllung oder ein Verstecken des Reichstags zu simulieren, ist als Symbol mindestens denkfaul, wenn nicht fahrlässig.

Ein Käfer gegen Christo-Sehnsucht

Außerdem findet das Ganze in einem Baustellen-Setting statt, das der Aufenthaltsqualität auf der Reichstagswiese nicht gerade dienlich ist. Unter anderem soll hier ein Graben ausgehoben werden, der einerseits an englische Landschaftsgärten erinnern, aber auch mehr Sicherheit garantieren soll. Der Bürgernähe dienen diese Maßnahme jedenfalls nicht. Überhaupt ist das Gebäude längst verschleust und verpollert und festungsgleich.

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Faltenwurf-Illumination heute eher traurig als ergriffen stimmt. Doch wen bei dem Anblick "echte" Christo-Sehnsucht überkommt, muss gar nicht so lange suchen. Nur rund zwei Kilometer entfernt steht in der Neuen Nationalgalerie seit Kurzem ein eingepackter VW-Käfer.