Vergessen Sie Venedig, Basel, Miami und Schardscha! Nach Arles sollte man fahren, wenn man kulturell interessiert ist, sich die Füße wund laufen und mit anderen Menschen vor Kunst rumstehen will. Denn seit 1970 findet in Arles in jedem Sommer das Foto-Event Les Rencontres de la photographie statt. Das können zwar nicht alle anständig aussprechen, aber es ist das erste seiner Art und das schönste und entspannteste Kunstfestival der Welt – um sich jetzt mal etwas aus dem Fenster zu lehnen. Aber man ist ja wirklich ganz elektrisiert.
Wer es noch nicht kennt: Arles ist eine eher arme Stadt, in der Nähe des zwar seit Jahren gehypten, aber davon immer noch nicht kaputtgemachten Marseille. Arles hat ein römisches Amphitheater, ähnlich alte Kirchen, Klöster, kleine Gassen. Es ist übertrieben schön. Und arm ist in diesem Fall nicht nur Beschreibung von Mangel, sondern bedeutet Leerstand, Unfertigkeit und – Vorsicht, jetzt wird’s schwierig – "Authentizität". Und wenn man die bejubelt, ist sie ja bereits in Gefahr. Aber man sollte wirklich sofort nach Arles fahren.
Denn bis in den Oktober hinein sind an 37 Orten Fotoausstellungen zu sehen, meist in historischen Gebäuden. Wer in der Eröffnungswoche kommt, trifft nicht nur auf das internationale Kunstvolk, sondern auch auf sehr viele Menschen mit Kameras um den Hals und Rucksack auf dem Rücken. Dazu gutgelaunte Studierende und Ausstellende.
Kaum möglich, alles zu sehen
Man sieht Guerilla-Aktionen mit Fotos, die im Kinderwagen umhergeschoben werden oder über einen Projektor an eine Wand geworfen werden. Man stolpert in den Friseursalon einer älteren Dame und findet darin historisch anmutende Hauben und eine kleine Ausstellung. In einem leeren Gebäude steht man plötzlich vor einem Schwimmbad. Im Park ist ein mobiles Fotostudio aufgebaut. Im ehemaligen Haus von Christian Lacroix findet eine Party statt, in einem anderen kleinen Hinterhof ein Konzert von Ukulelen-Spielerinnen. Und das Gerücht hält sich hartnäckig, dass irgendwann eine Party stattfindet, bei der zwei halbnackte DJs aus einem Fenster heraus Musik spielen und alle auf der Straße tanzen.
Aber dann ist da ja auch noch die Kunst. Die Luma Foundation mit ihrem Frank-Gehry-Glitzerturm und den vielen Hallen, in denen unter anderem eine Oper von Peter Sellars aufgeführt wurde, die ihre Längen hatte, aber mit Ganavya Doraiswamy eine Sängerin, die man unbedingt hören sollte.
Dann die Ausstellung von Lee Ufan in einem umgebauten Hotel oder die Van Gogh Foundation – der mochte das Licht hier so gerne. Dort läuft gerade eine Sigmar-Polke-Schau, aber die hat man leider nicht geschafft, denn es ist kaum möglich, alles zu sehen.
Kinder, die mit Waffen spielen
Ob die diesjährige Ausgabe des Fotofestivals eine starke oder schwache ist, darüber hört man verschiedene Aussagen. Aber an guten Ausstellungen mangelt es überhaupt nicht: Da sind die Bilder der italienischen Fotografin Letizia Battaglia, die mit ihren Zeugnissen der schweren Mafia-Zeit in Palermo bekannt wurde: Leichen, Witwen, Verhaftete. Die Foto-Journalistin war nicht nur immer näher dran als der vorsichtige Mensch raten würde, sie hat auch einen besonderen Blick für besondere Gesichtsausdrücke.
Es sind Kinder, die in den Straßen von Palermo mit Waffen spielen, Menschen, die auf ein Spektakel blicken, während neben ihnen ein Pferd verletzt am Boden liegt. Sie hat Pasolini, Mafiabosse und Katholiken fotografiert und später – das ist weniger bekannt – auch in der UDSSR und den USA gearbeitet: Menschen in psychiatrischen Einrichtungen, Jugendliche im Arrest.
Dann ist da das Projekt "Stendhal Syndrome" von Nan Goldin in einer kleinen Kirche. Die Diashow ist an Ovids "Metamorphosen" angelehnt, darin reiht sie Fotos ihrer Freunde mit denen von klassischen Gemälden oder Statuen aneinander - und macht die Menschen so zu Göttern der Mythologie. Die Arbeit aus dem Jahr 2024 ist weniger schwermütig als andere Werke der Künstlerin, dennoch voller Goldin'scher Gefühlstiefe.
Fotos aus dem Familienalbum gekratzt
Gezeigt werden in Arles auch die Straßenfotografie-Werke von Louis Stettner aus den 50er Jahren -Kompositionstechnische Perfektion aus New York und Paris. Oder Todd Hidos Licht-Landschaften, leere Straßen, Schneeverwehungen, einsame Häuser, leuchtende Kreuze. Carsten Höller bringt orchestrierte Polaroids mit, für die er Menschen anweist, Dinge zu tun. Die Nase an die Wand drücken zum Beispiel.
Weiter geht es unter dem Place de la République. Dort liegt ein Kryptoportikus, ein feuchter unterirdischer Gang aus römischer Zeit, wo die Arbeiten von Batia Suter ausgestellt sind, in denen sie sich mit Architektur und Erinnerung beschäftigt. Sie hat dafür Architekturdarstellungen aus Schulbüchern gesammelt und fotografisch so manipuliert, dass sie nicht mehr nach den gewohnten sicheren Unterkünften aussehen. Und sie hat Aufbewahrungsboxen für Nahrungsmittel aus Plastik fotografiert, die erstaunliche architektonische Merkmale aufweisen.
Nicht weit entfernt, in der ehemaligen Kathedrale Saint-Trophime, werden unter anderem die Arbeiten von Raphaëlle Peria gezeigt, die in Zusammenarbeit mit Fanny Robin ein Projekt entwickelt hat, für das sie in Fotos aus ihrem Familienalbum kratzt. Die beiden sind für das diesjährige Art Makers Programm ausgewählt worden, das BMW seit 2021 vergibt. Seit 2010 unterstützt die deutsche Autofirma auch die Rencontres als Sponsor.
Auf nach Arles, solange es noch da ist
Schon länger legt Peria in ihren Fotos mit vorsichtigen Schnitten die Schichten des Papiers frei und schafft so weiße Schraffuren. Für das aktuelle Projekt aber nutzt sie Bilder, die ihr Vater von ihr und ihrer Familie gemacht hat. Vor allem die von einer Bootsfahrt im Kanal, der von Bäumen gesäumt ist. Doch diese Gewächse sind mittlerweile von einem Pilz befallen worden und mussten gefällt werden.
Durch ihre Kratzer löscht Peria aus, was mit dem Foto eingefangen werden sollte. Sie prüft das Erinnern, sie betont das Verschwindende. Und durch das Ritzen entstehen interessante Spiele aus dem weißen Papier und den darin gespeicherten Farben. Sie legt ihre Kindheitserinnerung frei. Eine Kindheit, die es nicht länger gibt, die in den Bäumen steckt, die verschwinden werden.
So kann man sich auf den Rencontres von Ausstellung zu Ausstellung treiben lassen, Orte entdecken, in Konzerten landen, immer wieder auf Menschen treffen, die man schon an anderen Ecken gesehen hat. All das, was ein Festival ausmacht. Und dann sind da ja auch noch die unzähligen kleineren Namen, die jungen, die Universitäten, die zu Entdeckenden. Sie fotografieren US-Truck-Tuner in Japan oder tote Fische in einem Fluss in Australien. Umweltaktivisten in Braunkohleabbaugebieten. Zelte von Wohnungslosen in den USA. Hunde mit Maulkorb. Und alles andere, das verschwinden kann. Also auf nach Arles, solange es noch da ist.