Fotos aus dem 90er-Nachtleben

Tanzen, rauchen, küssen. Keine Handys

Christian Stemmlers neuer Bildband zeigt das Berliner Nachtleben der 90er – rau, frei und voller Gemeinschaft. Eine visuelle Erinnerung an Jugend ohne Filter und Smartphones

Es waren die letzten Jahre ohne Smartphone, die der Fotograf, Stylist und Artdirector Christian Stemmler da aufgenommen hat. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel in Berlin. Viel ist geschrieben worden über diese Zeit nach dem Mauerfall, als die Häuser leer standen, der Techno nach Berlin kam und die jungen Leute mental und physisch Platz hatten, ihre Ideen umzusetzen. Doch Stemmlers nun bei Idea veröffentlichter Bildband "Anfang/Beginning: Berlin 1994-99" holt weniger zurück in dunkle Keller, große Pupillen und helles Strobo-Blitzen, sondern begleitet vielmehr einen Freundeskreis durch diese in vielerlei Hinsicht besondere Dekade. Die letzten Jahre von Subkultur vor dem Internet.

Wir sehen sie in den Wohnungen, zu sechst auf dem Küchenboden sitzend, vor schrecklich bunt bemalten Wänden, irgendwelche Möbel, was man von den Eltern so mitnahm oder fand, an den Wänden Fotos, echte Fotos. Auf dreckigen Sofas sitzen sie in ungestalteten Clubs oder Kneipen, vor VW Golfs, in VW Golfs, an U-Bahnhöfen. Rauchend, natürlich immer rauchend. Wir sehen Caro-Hosen und Fred-Perry-Shirts, den jungen Sven Marquardt (Berghain) in Stiefeln, schon damals sichtlich an Mode und Tätowierungen interessiert.

Was hat Christian Stemmler aus dieser Zeit mitgenommen? "Ohne, dass ich es damals gemerkt habe wurde mein Auge für Stil, Schönheit und Momente geschärft. Viele modische Strömungen konnte ich so schon bevor sie zu Trends wurden erkennen und in meine Arbeit einfliessen lassen."

Kein weiterer Nostalgie-Band

Stemmler, in der DDR geboren, ist mit 17 von zu Hause ausgezogen, hat die Schule geschmissen, ist in ein besetztes Haus gezogen und hat angefangen in einem Club zu arbeiten. Er könne sich glücklich schätzen, sagt er heute, dass er gelernt habe, was Community wirklich bedeutet. "Zum einen in meiner Kindheit in der DDR, wo wir zu einer Gemeinschaft, nicht zu konkurrierenden Individuen erzogen wurden." Auch im besetzten Haus, wo diverse Menschen zusammenkamen, genauso wie in den Clubs. "Und natürlich auch in Kreuzberg, wo ich ab den späten 90ern gewohnt habe, wo mich meine muslimischen Nachbarn sehr herzlich aufgenommen haben."

Im Buch sieht man immer wieder Bilder vom DJ Housemeister, der heimliche Star des Buches, so Stemmler. Die beiden kennen sich, seit sie 16 sind aus dem Jugendclub in Berlin-Hohenschönhausen. "Ich habe ihn über viele Jahre hinweg regelmäßig fotografiert – er ist definitiv eine meiner absoluten Lieblingsmusen. Neben Ellen Allien, Honey Dijon und DJ ROK."

Stemmlers Bilder sind aber nicht nur ein weiterer Nostalgie-Band für Menschen, die Berlin hinterhertrauern, es sind Bilder der Jugend, der Neugierde, der Möglichkeiten. Nicht zuletzt auch eine Möglichkeit Mode von heute und früher zu vergleichen. "Es gibt viele interessante modische Inspirationen im Buch, meine liebste ist der genderneutrale Casual-Look aus Cargohose, T-Shirt und rasiertem Kopf. Die visuellen Geschlechtergrenzen wurden aufgelöst, ohne dass wir viel darüber nachgedacht oder geredet hätten. Wir waren genderless und queer, ohne die Wörter gekannt oder benutzt zu haben."

Jede Ecke der Stadt voller schöner Erinnerungen

Trotzdem kommt man beim Betrachten des Bandes auch ins Vermissen. Man vermisst gar nicht nur den Wohnraum, bezahlbare Ateliers oder Restaurants und Bäckereien ohne Schlangen davor, sondern viel mehr diese Räume der Antiästhetik, die nicht alle in die gleichen Farrow-&-Ball-Farben getauchten Zimmer, keine Scandi-Looks, nichts schreit "Matcha" oder "Cycling-Workout-Studio". Menschen sehen alle schön aus, aber auf ihre Art, die Gesichter unterscheiden sich. Und sie haben einfach Klamotten an. Statements auf T-Shirts. "Detroit". Oder "I am not gay, but my boyfriend is". Aber sehen nie verkleidet aus. Es wird viel geküsst. Und so vermisst man beim Betrachten auch Gemeinschaft, das scheinbar sinnlose Rumsitzen in Gruppen, die sich zugewandt sind.

"Die Communities haben sich verkleinert und fragmentiert, viele sind weggezogen, und die geblieben sind zunehmend frustrierter." Auch Stemmler ist viel unterwegs und in den letzten Jahren nur noch in Berlin, wenn es beruflich notwendig sei und um seine Freunde und Familie zu besuchen. Jede Ecke der Stadt steckt für ihn voller schöner Erinnerungen, aber ein Spaziergang in seiner alten Nachbarschaft am Görlitzer Park fühle sich mittlerweile an wie eine Zombie-Apokalypse. "Das menschliche Leid hat eine Stufe erreicht, die ich bisher nur aus den USA kannte. In den 90ern gab es noch Platz für alle, jetzt sterben Menschen langsam vor unseren Augen auf der Straße. Die Mischung aus Überforderung and Ignoranz, auch meine eigene, beim Betrachten dieser Situation bringt mich emotional an meine Grenzen."

Auch deswegen ist er in sein Archiv abgetaucht, wo er die Kraft der Bilder gespürt habe. Tanzen, rauchen, küssen, reden. Keine Handys. "Ich glaube, wir brauchen genau solche Bilder heute mehr denn je — um uns bewusst zu machen, dass Freude möglich bleiben muss, auch wenn die Welt um uns herum zu zerfallen scheint."