Walter Benjamin und Paul Klees "Angelus novus"

Die Engel im Blick

Paul Klees rätselhafter "Angelus novus" trifft auf Walter Benjamins Geschichtsdenken: Eine Ausstellung im Berliner Bode-Museum zeigt Engel vor den Trümmern der Zeit – und eröffnet einen Blick auf Vergangenheit, Zerstörung und Fortschritt

Es ist eine bemerkenswerte Leihgabe, die noch bis zum 13. Juli im Berliner Bode-Museum ausgestellt wird: Eine aquarellierte Ölfarbzeichnung des deutsch-schweizerischen Künstlers Paul Klee mit dem Titel "Angelus novus", die in besonderem Bezug zum Denken Walter Benjamins steht. Ein Engel mit aufgerissenen schwarzen Augen blickt auf die Trümmer der Vergangenheit, während er beständig durch den Fortschritt der Geschichte in die Zukunft getrieben wird. Anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes lädt die Ausstellung "Der Engel der Geschichte – Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel" dazu ein, der Analogie folgend einen Blick auf die Geschichte zu werfen.  

In Verbindung mit anderen Darstellungen von Engeln, die durch ihren Zustand oder ihren Blick die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts spiegeln, kreiert die Ausstellung ein Bild, das sich auf nuancierte Weise an die Geschichte heranwagt. Teil davon: Eine Fotografie von Caravaggios Gemälde "Der Evangelist Matthäus mit dem Engel" sowie die versehrte Skulptur eines knienden Engels von Giambattista Bregno. Der Ausschnitt des Filmklassikers "Der Himmel über Berlin" wiederum, der ebenfalls zu sehen ist, begleitet zwei Schutzengel auf ihrem Streifzug durch die noch geteilte Stadt. Dabei immer präsent: die Zerstörungen des Krieges, beispielsweise in Form der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Die Trümmer der Geschichte, wie sie Walter Benjamin beschreibt, spiegeln sich in der Zusammenstellung der Exponate wider. Sie sind ein Zeugnis der Schäden und Verluste infolge des Zweiten Weltkriegs – für die Kunstsammlung des Museums, die Stadt Berlin; für das Leben und die Menschen dieser Zeit. Ein Panorama, welches der Blick auf die Kunst freilegt; gerahmt durch Walter Benjamins Verständnis von Geschichte, das wiederum maßgeblich durch Klees Engelzeichnung geprägt wurde.

Kontinuierliches Entstehen im Vergehen

Das zentrale Exponat der Ausstellung, eben jenen "Angelus novus", erwarb Benjamin 1921. Mit dem übergroßen Kopf, einem geöffneten Mund mit spitzen Zähnen, zum Himmel gestreckten Armen und kleinen Flügeln wirkt die Figur rätselhaft. Sie setzt sich durch ihre vielen Details von klassischen Ideen eines Engels ab, ist gleichermaßen jedoch als solcher erkennbar. Heraus stechen im Besonderen die Augen: Die schwarzen, geweiteten Pupillen scheinen etwas zu fokussieren und ziehen den Blick des Betrachters in den Bann.

So muss es auch Walter Benjamin ergangen sein; das Bild begleitete ihn bis zum Ende seines philosophischen Schaffens. Ursprünglich sah der Autor darin noch die jüdische Engellehre repräsentiert. Dieser zufolge entstehen in jedem Augenblick neue Scharen von Engeln, die sofort wieder verschwinden. Ein kontinuierliches Werden im Vergehen des Alten, ohne den Blick in die Vergangenheit zu werfen. 

Doch spätestens mit dem Aufstieg der NSDAP veränderte sich Benjamins Blick auf sein erworbenes Kunstwerk. Als jüdischer Philosoph war er von den Entwicklungen in Deutschland maßgeblich betroffen; seine Heimat Berlin musste er bereits 1933 verlassen. Mit der Niederlage der französischen Armee floh er 1940 aus seinem Exil in Paris und trat seine letzte Reise bis an die spanische Grenze an. Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen entwickelte sich das Bildnis des "Angelus novus" für Benjamin zum Engel der Geschichte, der erschrocken auf die sich katastrophal entwickelnden Geschehnisse blickt, getrieben von einem Sturm, der ihn unweigerlich mit dem Rücken gen Zukunft reißt.

Die Trümmer der Vergangenheit

Am deutlichsten zeigt sich die Relevanz der Darstellung von Paul Klee in Benjamins letztem Text, den er kurz vor seinem Tod auf der Flucht vor den Nazis verfasste. Die Ausstellung im Bode-Museum zollt dieser Verbindung Respekt, indem sie drei von Benjamins Manuskripten gegenüber von Klees Zeichnung positioniert, während diese in der Mitte des Raumes hängt. In der ausgestellten neunten These des Texts "Über den Begriff der Geschichte" schreibt Benjamin: "Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt" und erwähnt die Engelzeichnung damit explizit. 

Statt der jüdischen Engellehre fokussiert Benjamin im Verlauf der These jedoch einen anderen Aspekt: Der Engel scheint auf etwas zu schauen, das sich vor seinem erschrockenen Blick vollzieht. "Der Engel der Geschichte muß so aussehen", schreibt Benjamin und rahmt damit den Gegenstand, auf den der Blick des Engels von Paul Klee fällt. 

Die Geschichte als sich katastrophal vollziehendes Geschehen rückt ins Blickfeld und begründet Benjamins kritisches Geschichtsverständnis, das in seinen Thesen zum Ausdruck kommt. Keine kausale Kette von Begebenheiten kann Walter Benjamin in den Entwicklungen des Nationalsozialismus erkennen. Stattdessen sieht der Engel der Geschichte unablässig Trümmer, die sich vor ihm aufbauen.

Zusammenfügen, was zerschlagen wurde

Der Engel der Geschichte, so Benjamin weiter, ist jedoch nicht ausschließlich passiver Beobachter. In der Kontinuität seiner Wesenhaftigkeit möchte der Engel zusammenfügen, was zerschlagen wurde; möchte verweilen vor den Trümmern, die sich vor ihm türmen. Doch das kann er nicht. In seinen Thesen führt Benjamin das Bild des Engels weiter aus. Ein Sturm, den er als Fortschritt bezeichnet, reißt den Engel unaufhaltsam fort. Mit Blick auf die Vergangenheit wird der Engel in die Zukunft gerissen. Was wir gemeinhin als Fortschritt wahrnehmen, entlarvt der Engel als sich auftürmende Folge von Katastrophen.

Im Gegensatz dazu zeigt sich ein Potenzial im Verharren vor den Trümmern: Um der Geschichte Rechnung zu tragen und verborgene Momente der Möglichkeiten zu erkennen. Im Bode-Museum, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und knapp 85 Jahre nach dem Selbstmord von Walter Benjamin, wird das Verharren, wenn auch nur für einen kurzen Moment, möglich.

Die Ausstellung trägt der Geschichte Benjamins und seinem Denken in vielerlei Hinsicht Rechnung. Dass Klees "Angelus novus" für einen kurzen Zeitraum zurück in die Heimatstadt Benjamins gelangt, schlägt eine Brücke zu dessen tragischer Geschichte. 

Momente der Erlösung

Wie der Engel der Geschichte öffnet die Ausstellung einen Blick auf die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg. Sie lädt ihre Besucherinnen und Besucher dazu ein, vor den Trümmern der Geschichte zu verharren, um der Vergangenheit Rechnung zu tragen: Ein Gestus, der für die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg als Imperativ dienen sollte.

Die Ausstellung im Bode-Museum ist daher nicht zuletzt ein Aufruf zu einer Form der Beschäftigung mit Geschichte, die das wegweisende philosophische Denken Benjamins berücksichtigt. Heißt: Geschichte nicht als lineare Bewegung des Fortschritts, sondern als Ergebnis von Katastrophen zu verstehen; und das Potenzial des Verharrens wahrnehmen, um in den Brüchen der Geschehnisse doch Momente der Erlösung erkennen zu können.