Wassily Kandinsky und Hilma af Klint in Düsseldorf

Sie werden ohne einander nicht mehr denkbar sein

Die Schwedin Hilma af Klint hat noch früher abstrakt gemalt als Wassily Kandinsky. Nun sind Werke der beiden Visionäre zusammen im K20 zu sehen. Und die Schau ist zum Glück viel mehr als ein kunstgeschichtliches Kopf-an-Kopf-Rennen

Dass die rund 100-jährige Geschichte der westlichen abstrakten Malerei nicht ganz vollständig erzählt wurde, wissen wir, seit die sensationellen Malereien von Hilma af Klint der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die 1862 geborene Malerin hatte mehr oder weniger im Verborgenen einen ganz eigenen, in sich komplett stimmigen abstrakten Bilderkosmos entwickelt. Und zwar nachweislich einige Jahre bevor Wassily Kandinsky im Jahr 1911 begann, die Gegenständlichkeit aufzulösen und kunsthistorisch neues Terrain zu betreten.

Spätestens seit einer großen Ausstellung von Hilma af Klints Werken im New Yorker Guggenheim-Museum 2018 und der im Jahr 2020 bei S. Fischer erschienenen Biografie "Die Menschheit in Erstaunen versetzen" von Julia Voss – der führenden Af-Klint-Forscherin – wird dieses kunstgeschichtliche Wahrnehmungslücke sorgfältig ergänzt. Die gebürtige Schwedin hat ihren Platz in der großen Gesamterzählung auch dank Voss, die nun auch zusammen mit Daniel Birnbaum die Ausstellung in Düsseldorf kuratiert. Die Idee dazu kam allerdings von Susanne Gaensheimer, der Direktorin von K20 und K21, und diese Idee ist tatsächlich sehr gut.  

Die beiden Oeuvres zusammen zu zeigen, ermöglicht nämlich weitaus mehr, als ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten Platz auf der Zielgeraden der Abstraktion nachzustellen, das so ohnehin nicht stattgefunden hat. Hilma af Klint und Wassily Kandinsky sind sich nie begegnet, und auch darüber, ob sie wechselseitig die Kunst des beziehungsweise der anderen wahrgenommen haben, bleibt Gegenstand der Spekulation. 

Die Bilder erleuchten sich gegenseitig

Auch wenn es vordergründig natürlich interessant bleibt, dass sie tatsächlich "Erste" war - von November 1906 bis März 1907 malte sie eine Serie von Abstraktionen, kleinformatige Leinwände, die den Titel "Urchaos" trugen – ist etwas anderes noch viel interessanter: Beide Künstlerpersönlichkeiten arbeiteten unabhängig voneinander an derselben Sache, der Auflösung der Form in die Ungegenständlichkeit, der Übertragung von seelischen und geistigen Zuständen mit den Mitteln der Malerei jenseits der Repräsentation. In der unmittelbaren Gegenüberstellung im K20 erleuchten sich die Werke jetzt gegenseitig, indem beides, Parallelen und Unterschiede, so physisch offenkundig werden und sich in der Anschauung materialisieren.

Die bekanntesten und eindrucksvollsten Werke af Klints sind "Die zehn Größten", als signifikantes Werk Kandinskys für den Beginn der abstrakten Malerei ist seine "Komposition IV" zu nennen. Anstatt die Entstehungsjahre zu vergleichen, 1907 (af Klint) und 1911 (Kandinsky), stellt Julia Voss fest, dass beide zum Zeitpunkt der Erschaffung ihrer Werke in ihrem 45. Lebensjahr waren. Beide sind überzeugt davon, dass sie den Weg zu einer geistigen Wahrnehmung ebnen und lassen die akademische Malweise, in der sie geschult waren, hinter sich. 

Beide erhalten einzelne wiedererkennbare Motive – Blüten oder Landschaftsfragmente. Kandinsky erläutert, so die Betrachtenden ins Bild hineinziehen zu wollen. Af Klint ist unabhängiger, was das Publikum betrifft: Sie erhält ihre Anweisungen von höheren Wesen auf Séancen, an denen sie seit ihrem 17. Lebensjahr teilnimmt. (Wer sich für den spiritistischen Motor hinter af Klints Werken interessiert, kann in Vitrinen ihre Notizbücher, mediumistische Zeichnungen und historische Literatur finden.)

Was die Kunst beitragen konnte: alles

Im die Ausstellung begleitenden Buch ("Hilma af Klint und Wassily Kandinsky träumen von der Zukunft", S. Fischer, 36 Euro) von Julia Voss und Daniel Birnbaum, das weniger Katalog als durchgeschrieben ist wie eine mitreißende Geschichte, heißt es dazu: "Im Dezember der Jahre, in denen Hilma af Klint und Wassily Kandinsky jeweils 45 Jahre alt wurden, hatten sie die Antwort auf die Frage gefunden, was die Kunst zu einem neuen Zeitalter beitragen konnte: alles."

Der eine, Kandinsky, wurde schon zu Lebzeiten berühmt, ging als Professor in die Lehre, wurde international ausgestellt und hatte großen Einfluss. Die andere, af Klint, blieb im Verborgenen und verfügte selbst, dass ihre Werke erst 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürfen. Sie wusste, dass sie ihrer Zeit voraus war, so die Mutmaßung von Marina Abramović. 

Die Sorgfalt, mit der diese Ausstellung konzipiert ist, von der klugen Dramaturgie bis hin zu den Wandfarben, erzeugt ein energetisches Flirren zwischen den beiden Polen Hilma af Klint und Wassily Kandinsky. Sie werden zukünftig, auch für kommende Generationen, nicht mehr ohne einander denkbar sein. Dafür sind Museen da.

Über die Ausstellung spricht Monopol-Redakteurin Silke Hohmann auch mit Detektor FM: