Sprengel Museum Hannover

Das Nichts verstehen

Er ist kein Typ, der sich mit Small Talk aufhalten würde, auch nicht mit umständlichen Einleitungen. Nachdem Richard Dea­con auf der Pressekonferenz zu seiner Rückschau im Sprengel Museum gefragt wurde, ob er etwas sagen möchte, bestand die Antwort des 61-jährigen Walisers schlicht aus „Danke schön“, bevor er direkt dazu überging, in extrem exakten Worten Auskunft über seine Arbeiten zu geben. Wann er sie gemacht hat, worum es geht, welches Material er verwendete. Noch Fragen? Nein.

Ähnlich umstandslos zeigt sich die Ausstellung selbst. Sie beginnt mit einer herzlichen, einladenden Geste: Sanft steigt eine u-förmige Holzleiste auf, deren Enden sich in die Höhe strecken wie freudig in die Luft gerissene Arme. „Untitled“ stammt aus dem Jahr 1981, als Deacon seinen künstlerischen Durchbruch hatte. An den für Retrospektiven üblichen Erzählstrang von den Anfängen bis zur Gegenwart hält man sich in Hannover jedoch nicht. Gleich der erste Saal versammelt Arbeiten aus allen Phasen des Künstlers. Sie erheben sich vom Museumsboden oder wölben sich an den Wänden. Sie bestehen aus Holz, Linoleum, Keramik, Metall oder Kunststoff und gefallen bei aller Unterschiedlichkeit sofort. Richard Deacons Werke sind auf fast schon irritierende Art stimmig und in ihrem bloßen Dasein enorm souverän.

Zeit des Experimentierens
Da ist es natürlich beruhigend zu erfahren, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. „The Missing Part“ präsentiert neben rund 40 mittel- und großformatigen Skulpturen auch Dokumente aus den 70er-Jahren. Deacon versuchte sich damals an Performances, schrieb Manifeste, baute seine Skulpturen, zeichnete, fotografierte und reiste viel. Die Landschaftsaufnahmen aus dieser Etappe geben eine vage Vorahnung von den biomorphen Formen, die später zu seinem Markenzeichen werden sollten.

Und trotzdem: Für Deacon war es eine Zeit des Experimentierens, er besuchte drei Kunsthochschulen in sechs Jahren und hätte am Ende, sagte er einmal, immer noch nicht die geringste Ahnung gehabt, was er tun sollte.

Zumindest im Rückblick scheint es so, als explodierten seine mäandernden Vorstudien im darauffolgenden Jahrzehnt in purem Schaffensdrang. Anfang der 80er-Jahre gehörte Richard Deacon gemeinsam mit Tony Cragg, Anish Kapoor oder Bill Woodrow zu einer Gruppe junger Künstler, die die zeitgenössische Skulptur neu belebten. Die Minimalisten um Donald Judd, Dan Flavin und Carl Andre hatten die Bildhauerei auf die stupende Formel „What you see is what you see“ heruntergebrochen. Ihr Erbe ist deutlich zu sehen in Deacons groben Werkstoffen und der Unmittelbarkeit, mit denen er ihnen begegnete. Und seine Fragen waren nicht weniger grundlegend als die der Vorläufer – nur die Antworten spielerischer.

Ein Einkaufserlebnis als Initialzündung
Im Zentrum seiner Kunst, schreiben die Kuratoren Joëlle Pijaudier-Cabot und Ulrich Krempel im Ausstellungskatalog, stehe „die konstruktive Rolle des Nichts, der Höhlung des Raumes an sich“.

Dieses Thema, also das Verhältnis von positiver und negativer Form, untersuchte Donald Judd in akademischer Strenge, Richard Deacon führt es dagegen auf ein banales Einkaufserlebnis zurück: In einem Super­markt „betrachtete ich einen Schweizer Käse – den mit den Löchern –, und mir kam folgender Gedanke: ,Wie wäre es wohl, wenn die Löcher so groß wären, dass nur ganz wenig Käse da wäre?‘ Das Loch steht in existenzieller Beziehung zu dem Käse. Abwesenheit und Präsenz sind gleich.“ Die skelettartigen Holzskulpturen „What could make me feel this way“ (1993) oder „Laocoon“ (1996) wirken tatsächlich wie Röhren oder Körbe, die nichts enthalten als die Leere selbst.

Der Mensch als Maß
Richard Deacons Maß ist der Mensch als intellektuelles, vor allem aber als ästhetisch empfindendes Wesen. Seine Werke erinnern an Muscheln, Blüten, Felsen, Schlangen oder Organe – Formen, die er der Natur entnommen und seinem Material abgerungen hat. Er dreht und verbiegt es, zwingt es zu irrsinnigen Achterbahnen oder Möbiusschleifen, setzt es unter Spannung. Stets sind die Eingriffe des Briten, der sich selbst als „fabricator“, als Verarbeiter, bezeichnet, sichtbar, doch der aus Ritzen quillende Leim, die Nähte, Schrauben und Bindungen tun der Eleganz seiner Arbeiten keinen Abbruch.

Es gibt eine weitere, nicht unmittelbar auffällige Dimension in diesem Œuvre, wenn für die Titel Anleihen bei der griechischen Mythologie oder Gedichten von Rainer Maria Rilke genommen werden. Aber dazu äußert sich Richard Deacon lieber nicht. Was man nicht niet- und nagelfest machen kann, darüber soll man schweigen.

Sprengel Museum Hannover, bis 15. Mai. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Verlag der Buchhandlung Walther König, 272 Seiten, 30 Euro