"On:Off"-Kolumne

Die Tücken des Systems

Die Digitalisierung geht in Deutschland schleppend voran. Oft hilft man sich mit formelhaften Plattformlösungen. Individuellen Kundenbedürfnissen können viele Dienstleister so nicht nachkommen. Das lässt den Alltag unflexibel werden

Hierzulande wird viel über die mangelnde Digitalisierung diskutiert. Als der Bundeshaushalt vor einigen Wochen das Budget für die Digitalisierung der Verwaltung von 377 Millionen Euro in diesem Jahr auf 3,3 Millionen Euro für 2024 kürzte, wunderten sich nicht wenige, was man mit so wenig Geld überhaupt noch realisieren kann. Luftballons und Feuerzeuge bedrucken? Aber ehrlicherweise wurde die Weichenstellung dafür schon vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten verkackt.

Wenn man über die Potenziale der Digitalisierung spricht, dann geht es in der Regel um optimierte Prozesse, Abbau von Bürokratien und mehr Effizienz. Alles kann durch Digitalisierung schneller, agiler, flexibler, direkter und billiger werden – so das Versprechen. Dabei wird oft übersehen, dass es gar nicht um Digitalisierung per se gehen sollte, sondern immer auch darum, wie gut und intelligent etwas umgesetzt wird und funktioniert.

Bis heute gilt die Covid-Pandemie in vielen Bereichen als Beschleuniger für Digitalisierungsprozesse. Plötzlich konnte man Tickets fürs Freibad online kaufen oder sich das Essen ohne laute Telefonate per App liefern lassen. So weit so gut. In der Alltagspraxis stellt sich Digitalisierung allerdings immer wieder als Ärgernis und Hindernis heraus.

Mühen des Umtauschs

Vor einiger Zeit musste ich mein Smartphone-Case umtauschen, weil es nicht richtig hielt und das Telefon immer aus der Hülle sprang. Also bin ich damit zum Flagship Store des Herstellers nach Berlin-Mitte gefahren, zuvor Rechnung eingepackt und wollte mir das Zubehörteil vor Ort ersetzen lassen. Der freundliche Mitarbeiter sah sich das Problem an, sagte, ja, das müsse man umtauschen und meinte dann direkt, ich müsse das online machen. Wie bitte?

Gut, ihr seid das größte Tech-Unternehmen der Gegenwart, es steht natürlich für Digitalisierung. Aber wieso kann man das nicht direkt umtauschen oder sich im Laden darum kümmern, wenn etwas kaputt ist? Ich bin doch schon da! Wofür habt ihr überhaupt einen Laden? Ich schaute sehnsüchtig an die große Wand mit unzähligen Smartphone-Hüllen in allen möglichen Farben, die perfekt auf mein Telefon passen würden. Vergriffen war da nichts. "Das geht leider nicht, das läuft bei uns über das System. Da kann ich nicht weiterhelfen", lautete die Antwort. Also fuhr ich (zwei U-Bahn-Tickets hatte ich umsonst gelöst) ohne neue Hülle nach Hause.

Ich füllte dort das Online-Formular mit der Schadensbeschreibung aus und sollte ein Foto mitschicken. Ich stand vor einer kniffligen Aufgabe: Wie mit dem Telefon ein Foto machen, wenn ich doch das Telefon in der Hülle dokumentieren soll? Also wartete ich auf meine Frau, um mit ihrem Telefon die Dokumentation zu machen, schickte das Foto an mich zurück, um dann das Bild in die Schadensmeldung einzufügen. Der Umtausch verlief zwar ohne Einwände. Aber natürlich musste dafür wieder ein Logistikfahrer die nächsten Tage einen Abstecher bei uns in zweiter Reihe machen und ich zu Hause warten, damit das Päckchen nicht wieder in irgendeinem Paketshop verschwindet, mühsam abgeholt werden oder der arme Logistiker nicht noch einmal am kommen muss.

Keine Nuggets im System

Als ich mit meiner Familie in einer bekannten Bierklause am Kanalufer Freundinnen und Freunde traf, bestellten wir Bier und Cheeseburger. Ich fragte am Tresen, ob wir für unser kleines Kind nicht ein paar Fisch-Nuggets separat bestellen könnten. Der Mitarbeiter schaute mich pikiert an: "Das geht nicht. Das haben wir nicht im System und das sieht die Küche überhaupt nicht gern, wenn so was kommt." "Was heißt hier System?", hakte ich nach, "ihr habt die Nuggets doch auf der Karte. Wir wollen keine große Portion und wir wollen das doch nicht umsonst." "Nein, das geht nicht. Wir haben alle Speisen im System und ich frage auch nicht in der Küche nach. Das läuft hier so", würgte er ab. Genau so sollte Service funktionieren, fluchte ich in mich hinein. Als würde ich zu McDonald's gehen und insistieren, man möge mir Kaviar und Ruinart servieren.

Kürzlich heiratete ein guter Freund von mir und wir wollten dem Brautpaar einen Gutschein für einen Italiener bei uns im Kiez schenken. Ich schaute extra auf der Website nach, ob es irgendwelche Gutschein-Optionen online gibt. Da gab es nichts. Der Laden wird persönlich und familiär geführt, also gehe ich doch am frühen Abend mit Bargeld hin, bevor es voll wird, dort wird mir bestimmt jemand ein hübsches Kärtchen aus wertigem Papier ausfüllen und stempeln, damit ich das verschenken kann – dachte ich. Als ich den Laden betrat, begrüßte mich der Chef und als ich meinen Wünsch äußerte, entgegnete er, das könne er nicht machen. "Wieso nicht? Macht ihr keine Gutscheine?", fragte ich nach. "Doch doch. Das kannst du bei uns auf der Website machen", antwortete er. "Aber da war doch nichts. Deshalb bin ich doch hier." "Naja", erklärte er, "du schreibst uns über das Kontaktformular eine Mail, dass du einen Gutschein willst. Dann schick ich dir die Kontodaten und sobald wir das Geld per Überweisung erhalten haben, schicke ich dir den Gutschein per Mail. Wann ist die Hochzeit?" "Am Samstag." "Ja, das passt." "Aber ich würde das Ding schon noch gerne vorher hübsch ausdru …" "Ciao, danke!"

Also Kontaktformular ausgefüllt. Nachts um zwei schickte mir der Chef eine Mail mit den Kontodaten. Wie lange ein Mensch in dieser Branche doch arbeiten muss! Am nächsten Morgen wollte ich das Geld am Computer überweisen, bis die Fehlermeldung kam, das Konto sei kein deutsches. Natürlich hat die Firma des digitalen Kassensystems ihren Sitz in Irland. Also nochmal alles von vorne als Auslandsüberweisung angelegt und zur Sicherheit einen Screenshot gemacht, weil Überweisungen ins Ausland bekanntlich länger dauern und an die Antwort-Mail angehangen. Am Folgetag, am Tag der Hochzeit, kam dann endlich die Mail mit PDF-Gutschein. Zwar sei das Geld noch nicht eingegangen, aber hier sei schonmal der Gutschein.

Eigentlich wollte meine Frau den Gutschein bei der Arbeit auf einem guten Farb-Laserdrucker ausdrucken, was nun nicht mehr ging. Also zu Hause den alten Tintenstrahler angeschmissen, dem wie immer die Farbtinten ausgegangen waren. Also auf billigem Büropapier eine Schwarz-Weiß-Version gemacht, was auch gar nicht so einfach ist, eine Farbvorlage in Grautöne umzuwandeln. Gott, fühlte ich mich mies und angebrüht. Ob ich alt und verbittert werde, reflektierte ich noch. Aber jüngere Leute haben meist nichtmal einen Drucker. Was machen die? Eine E-Mail mit Anhang zur Hochzeit verschenken?

Ich liebe Technologien, seit ich ein Kind bin. Aber dass Digitalisierung, gerade im Kleinen – ich spreche gar nicht von Verwaltung und Bildung – dazu führt, dass etwas, das sonst in einem persönlichen Kontakt direkt erledigt werden könnte, zum Projektmanagement im Mid-Senior-Level wird, dann ist sie keine Hilfe. Weder für den Gastronomen noch für mich. Weil natürlich muss die Buchhaltung im Restaurant nochmal überprüfen, ob die Überweisung die nächsten Tage auch wirklich angekommen ist. Das ist doch kostbare Zeit und Arbeit. Wie war das mit dem Passierschein A38?

Ständiges Verweisen auf "das System"

Was die Fälle vereint, ist das ständige Verweisen auf "das System". Ob bei der portugiesischen Autovermietung: "Tut mir leid, dass Sie eine Stunde warten mussten und sieben Kunden vor Ihnen drankamen. Wir hätten Sie früher drangenommen, aber Ihre Nummer war nicht im System." Oder bei einer einfachen Kaschemme in Berlin, die offenbar nicht in der Lage ist, einen kleinen Snack für ein Kind zuzubereiten. Spätestens da wird der digitalisierte Alltag für mich beunruhigend und dystopisch. Nicht nur, weil es ganz offensichtlich Defizite in Effizienz, Service-Fokus, Flexibilität und Produktivität offenbart, sondern auch nicht zu unterschätzende, unterwürfige Abhängigkeiten.

Und das ist erst der Anfang. Mit der Verbreitung und Entwicklung von KI werden noch mehr Alltagsbereiche durch algorithmische Systeme durchdrungen, auf welche die allerwenigsten von uns noch Einfluss nehmen werden können. Am Ende sind es auch die formelhaften Plattformlösungen von digitalen Dienstleistern, die den Alltag so unflexibel werden lassen und nicht auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Kunden (Restaurant, Geschäft) eingehen, weil diese sich dem System anzupassen haben.

In einem hippen Buchladen versuchte ich mal eine Quittung zu bekommen, was nur digital und unter Nennung meiner Mail-Adresse ging. Die Rechnung kam, allerdings ohne Rechnungsdatum und ohne ausgewiesene Mehrwertsteuer. Danke für nichts. Es müssen die Prämissen und Intentionen der jeweiligen Unternehmen hinterfragt werden. Im seltensten Fall geht es wirklich um ein besseres, vereinfachtes Miteinander sondern selbstverständlich um Profit und Wachstum. Wenn in einem Laden einmal alles über ein System läuft, dann gibt es auch kein Daneben oder "Natürlich machen wir das schnell". Wir alle scheinen darin gefangen. Es gibt immer seltener Platz für Spontanität und Überraschungen.

"Eine wirklich tolle User Experience"

Schon heute finden sich ältere Menschen im Alltag kaum zurecht, weil sie kein Smartphone oder Internet nutzen. Sie bekommen keine Termine beim Arzt oder Amt, weil sie nicht Teil des digitalen Systems sind. In China können im anderen Extrem mit Hilfe der digitalen Totalüberwachung mutmaßliche Dissidenten und Dissidentinnen keine Zugtickets, Flüge oder Hotels mehr buchen, wenn sie einmal auf einer falschen Liste gelandet sind.

Neulich wollte ich meine Küchenmesser schleifen lassen. Online fand ich eine schick gestaltete Seite, bei der man erst sogenannte Briefe bestellen muss. Hierfür muss man sich einen Account anlegen, sich entscheiden, ob man einmalig schleifen lassen will oder sich für ein rabattiertes Abo-Modell entscheidet. Die Briefe kommen erst per Post, dort steckt man die Messer ein, schickt sie dann quer durchs Land zurück und binnen einer Woche kommen sie erneut nach Hause. Preis pro Messerschliff: 18 Euro. Eine Woche auf scharfe Messer warten, dauerte mir aber zu lang. Durch Zufall entdeckte ich eine alte Schleiferei in der Hobrechtstraße. Ich ging mit meinen Messern hin, eine urige Hinterhof-Kellerwerkstatt aus dem letzten Jahrhundert mit vergilbten Leuchtröhren. Ich hinterließ Messer und Telefonnummer und zwei Tage später erhielt ich den Anruf, ich könne die Messer abholen. Die Solinger Klingen schneiden nun besser als neu. Ich bezahlte 20 Euro für drei Küchenmesser und bis heute fühle ich mich, als hätte ich eine unbekannte Tierart in Neuseeland entdeckt, wenn nicht die gefahrenfreie Kernfusion.

So schnell, unkompliziert, nachhaltig, handwerklich großartig und glücklich machend – war ich doch kurz davor, neue Messer zu kaufen. Ich habe keinen Finger krumm gemacht, bin aber immer noch so stolz, dass ich das der ganzen Welt mitteilen möchte, was hiermit erledigt wäre: Eine wirklich tolle User-Experience.