Nachruf

Die Unwirklichkeit des amerikanischen Traums

„Evidence“, der Titel seines berühmten, gemeinsam mit Mike Mandel gestalteten Fotobuchs, klingt wie ein Credo der amerikanischen Dokumentarfotografie. Larry Sultan spielte damit an auf die Beweiskraft der Kamera, die Zeugenschaft des unbestechlichen Auges dahinter. Tatsächlich aber hatten die beiden Fotokünstler bei keinem einzigen der fünfzig Bilder selbst auf den Auslöser gedrückt. Es waren Fundstücke aus Forschungslabors und Polizeiarchiven, aus Behörden und Ministerien. Was immer diese Bilder einmal hatten beweisen, belegen oder bewerben sollten, sie hatten ihre Schuldigkeit getan. In Archivschubladen hatten sie auf ein zweites Leben gewartet. Ein Leben als Kunst, das Sultans Blick ihnen zugestand. Besaß doch jedes einzelne eine ästhetische Komponente: manchmal skurril und absurd, manchmal auch ganz unverstellt.

Auch hinter der Kamera arbeite Larry Sultan an der Schnittstelle von Dokument und Fiktion. Im kalifornischen San Fernando Valley, wo er aufwuchs, liegen Wahrheiten und Lebenslügen bekanntlich dicht nebeneinander. Hier stehen die Schlafstätte für die Mitarbeiter der Traumfabriken, die gleichen Villen sind aber auch die bevorzugten Drehorte einer riesigen Pornoindustrie. In seiner berühmten Serie „The Valley“ würdigte Sultan diese Branche in Tableauxs von irritierender Feierlichkeit. Das gleichnamige Fotobuch inszeniert die Arbeit an der sichtbaren Leidenschaft in einer Intimität, die sich die Branche selbst nicht zugestehen würde. In einem Pornofilm ist alles Lüge, nur der Sex ist echt. Sultans Fotos taten alles andere, als den Finger auf diese Tatsache zu legen. Sie enttarnten vielmehr eine in diesen Filmen ausgeklammerte Menschlichkeit.

„Ich interessiere mich sehr für die Idee des Pittoresken“, bekannte Sultan im vergangenen Jahr in einem Interview mit Monopol. „Es ist ja eine dekadente und reaktionäre Weltsicht, die in der zeitgenössischen Architektur mit jemandem wie dem in den USA populären Kitschmaler Thomas Kinkade assoziiert wird. Es gibt hier schon Siedlungen, die nach den Vorlagen seinen Zeichnungen gebaut werden namens Kinkadeland. Das Pittoreske ist also ein gefährliches Arbeitsfeld wegen seiner Untertöne zum Pastoralen und Utopischen.“

In seiner letzten Serie „Homeland“ inszenierte Sultan diese Landschaften mit Statisten, die er aus den Warteschlangen von arbeitssuchenden Immigranten besetzte. „Wenn ich Tagelöhner als Darsteller für diese Idyllen engagiere, kontaminiere ich das Pittoreske und problematisiere es. Ich gebe ihm eine Poetik, die es sonst nicht hätte.“ Die großformatigen Fotografien könnten nicht entfernter sein vom Genre der Arbeiterfotografie. Und doch erneuerten sie es von Grund auf durch Sultans überhöhende Perspektive.

„Ich verwandele die Natur gleich neben diesen Siedlungen ins Pastorale“, sagte Sultan, „und ich mache das nicht als zynische Geste. Ich bin in diesen Vororten aufgewachsen und für mich waren sie voller Verheißung, ich glaubte an ihre utopische Vision.“

Die Landschaften Kaliforniens waren lange Zeit das Arkadien der amerikanischen Fotografie. Länger als irgendwo sonst auf der Welt regierten dort die Piktoralisten: Kamerakünstler, die sich für die besseren Maler hielten und auf dem Fotopapier die Ästhetik des 19. Jahrhunderts fortschrieben. Mit dem Siegeszug der dokumentarischen Fotografie seit den 30er-Jahren verschwanden ihre Idyllen, doch der Fotokünstler Larry Sultan führte beide so gegensätzlichen Strömungen wieder zusammen.

Als das New Yorker Museum of Modern Art im Frühling 2009 mit der umfassenden Ausstellung „Into the Sunset – Photography’s Image of the American West“ einige der berühmtesten visuellen Positionen über Verheißung und Kritik am amerikanischen Traum zusammenführte, nahmen Sultans Bilder einen zentralen Platz ein. Es war exakt dieser Zwiespalt, die Irrealität des Traums einer ganzen Nation, aus dem er eine seine unverwechselbare Bildsprache entwickelt hatte. Am vergangenen Sonntag ist Larry Sultan im kalifornischen Greenbrae an Krebs gestorben. Er wurde 63 Jahre alt.