Anna Virnich in Köln

Erst einmal ein Anfang, in Endzeiten

Die Künstlerin Anna Virnich ist ein "Material Girl" im besten Sinne: Ihre textilen Werke sind mehr Form als Geschichte und transportieren doch Assoziationen von Madonna bis zu einer Welt ohne Menschen. Jetzt sind ihre Werke in Köln zu sehen

Die Welt brennt. Und Mutti raucht wieder. Weil es aus ist, vorbei, weil sie Kinder hat oder auch keine, weil man nichts mehr machen kann, oder doch noch?  Mutti denkt über ihr Leben nach, das Leben der Anderen, die vor ihr kamen, die vielleicht nicht mehr nach ihr kommen. Sie denkt an Berührungen, Intimität, Gemeinschaft, Schmerz, spürt Erinnerungen nach, die sich in ihren Körper eingeschrieben haben. Sachen, die mit 4 oder 12 passiert sind, die Erwachsenen, die Toten, Filmbilder, Fetzen von Literatur, Haarbänder, Musik, Kleidung, den Geruch von Bettwäsche, Meer, einen Sonnenstrahl, der ins Zimmer fällt.

Sie denkt an die Zukünfte, die sie noch nicht fassen, oder sich nicht mehr vorstellen kann. "Gerade jetzt, wo es nicht mehr deine Sache ist, wo alles vorbei zu sein scheint, tritt jedes Ding und jeder Ort in seiner wahrsten Gestalt hervor, berühren sie dich irgendwie näher – wie sie sind: Glanz und Elend ", schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben 2020, im ersten Jahr der Pandemie.

In ihrer aktuellen Ausstellung in der Kölner Galerie Drei thematisiert Anna Virnich diese gesteigerte Empfindsamkeit, das Gefühl deutlicher zu sehen, berührt zu werden, das aber auch mit diesem  "zu spät " verbunden ist, mit Überforderung, Überdruss. Diese Empfindsamkeit, kann so isoliert, anämisch und nervös sein, wie die von Jean Floressas Des Esseintes, dem Protagonisten aus Joris-Karl Huysmans "A Rebours" (Gegen den Strich), einem  Hauptwerk der literarischen Dekadenz, einem Buch, das Virnich immer wieder gelesen hat.

Parasiten von Parasiten

In dem 1884 erschienenen Roman richtet sich ein wohlsituierter, überreizter Pariser Aristokrat in einer künstlichen Welt des Ästhetizismus ein. Er will sterben. Er beschäftigt sich mit Farben, Düften und bizarren Orchideen, schärft seinen Geschmackssinn, versenkt sich in die Bilder von Gustave Moreau und Odilon Redon. In einer Schlüsselszene lässt er den Panzer seiner Schildkröte mit Gold überziehen und mit Edelsteinen verzieren, nicht er, sondern sie stirbt an diesem sinnlosen Prunk.

"Thoughts " heißt eine golden-beige Arbeit von Virnich, aus Seide und Crepe de Chine, auf der sich rundliche Formen wie Pocken oder Parasiten angesiedelt oder eingenistet haben, plumpe, schwere Gedanken, dazwischen Fadenkanäle, nervöse Bahnen, an den kleine Glas-und Zuchtperlen hängen, wie Nissen, Käfer oder Tautropfen, Parasiten von Parasiten. In ihnen steckt das vergangene Funkeln der Edelsteine auf dem Rücken der Schildkröte, das Schimmern von Tränen, aber zugleich ist da auch eine alienhafte, absolute Gleichgültigkeit. Virnichs "Thoughts " könnten auch an einem toten Baum in irgendeiner Zukunft ohne Menschen hängen.

Diese Vision beschäftigte Virnich schon als Kind. Damals in den 1990ern, sah sie im Fernsehen Douglas Trumbulls Science-Fiction Klassiker  "Lautlos im Weltraum " (1971): Eine Flotte von Raumschiffen treibt seit Jahren durchs All, eine Art futuristische Arche Noah, die die letzten Wälder der Erde unter riesigen Glaskuppeln erhalten soll, da die gesamte Natur auf dem Planeten zerstört wurde.

Ein Biotop ohne Menschen

Einer der Astronauten hat sich ganz der Idee verschrieben, diese Biotope zu retten. Als die Mission abgebrochen wird, die gigantischen Kuppeln gesprengt werden sollen, tötet er die anderen Besatzungsmitglieder, um alleine weiterzureisen. Schließlich fangen die Blätter an zu verdorren, weil sich die Arche zu weit von der Sonne entfernt hat. Er installiert künstliches Licht, wird von einer Rettungsmission entdeckt, sprengt das Mutterschiff und sich selbst, schickt einen Roboter in der letzten Kuppel los, der das Biotop mit den überlebenden Pflanzen und Tieren weiterpflegt – ohne Menschen. 

Jahrzehnte nach diesem Filmerlebnis, 2022, sah man das Echo dieser Bilder in ihrer Ausstellung "Stills" in der Berliner Galerie Robert Grunenberg - als die Silhouette einer auf Leinwand gemalten, ausgeschnittenen Pflanze, die auf einem ihrer Materialbilder unter einem giftgrünen, transparentem Stück Plastik durchschimmert, – eine Reminiszenz an Trumbulls posthumanen Film, aber auch ein Gefühl von Vergehen, Verdorren. Die kränkelnde Pflanze lässt auch an Mondrians theosophische Bilder von Lilien und Chrysanthemen denken, oder die Abstrakte Expressionistin Joan Mitchell, die Blumenseelen malte und sagte: "Sunflowers are like people for me ".

Gleich neben dieser Laborsituation, findet sich auf Virnichs Arbeit ein riesiges, verblichenes, pink-oranges Stofffeld mit Stockflecken, ein mit insektenartigen Ornamenten überzogener Polyesterstoff, ein selbstgenähter Überwurf, der an alte Haut und Kindbett denken lässt. Zusammen ergeben sie eine abstrakte, spekulative Erzählung über Werden, Vergehen, Malerei, Geburt, Künstlichkeit, Science-Fiction.

Atomverseuchte Pilze, die auf Puddinghaut wachsen

Seit ihrer Kindheit sammelt Virnich Stoffe, Kleider, Decken, Vorhänge, Bezüge, die sie dekonstruiert, der Witterung aussetzt, bleicht, einfärbt, auch bemalt, um daraus Bilder, Räume, Welten zu machen. In ihren jüngeren Arbeiten paaren sich hysterische, dekadente Sensibilität und Nostalgie, das kribbelige Unbehagen an der Gegenwart mit materialistischem Denken, dem Interesse am Material. Für  "Gauge your Fears ", also "messe deine Ängste", setzte Virnich ein Geflecht aus fleckig gechlortem Satin auf ein milchiges Latexquadrat. Die Stickblumen, Callas, sehen aus wie atomverseuchte Pilze, die auf Körperflüssigkeit, Puddinghaut wachsen.

Da ist ein gewisser Kink in Virnichs Praxis, der Anflug von Camp, etwas Ungehöriges, Queeres, etwas das man eigentlich nicht macht. Das lustig und absolut deprimierend ist, und auch eine gewisse Kälte hat. Wie  der Name von diesem Kreuzberger Swingerclub: Zwanglos III.

Die Werke in  "Mutti raucht wieder" sind ganz im Jetzt, so wie wir uns gerade fühlen, in unserem Kopf, unseren Körpern. Es sind wohl Virnichs bislang am genauesten austaxierste, feinste, skulpturalste Arbeiten, die sich immer weiter von der Vorstellung wegbewegen, das, was sie da macht, sei "genähte Malerei ". Eine Antwort auf Nachkriegsabstraktion, Farbfeldmalerei, Post-Painterly-Abstraction.

Keine minimale Sensibilität in Endzeiten

Virnich setzt eine Austernschale auf gesteppten Satin, auf Latex. Da ist ein Gefühl von Erregung in diesem Werk, der Hauch von psychologisch aufgeladener Indiskretion und Zwanglosigkeit. Virnich nutzt diese, um die eigentliche formale Strenge ihrer Arbeiten, ihre eigene künstlerische Distanz ganz auszuspielen, ohne dass es zu pathetisch oder betulich wird. Keine minimale Sensibilität in Endzeiten. 

Natürlich vermitteln ihre Werke etwas Narratives. Das liegt allein schon an der Natur des Materials. Selbstverständlich fragt man sich, wer dringesteckt hat in den Klamotten, auf wessen Bett die Decke gelegen hat, wo der Mensch ist, der zum Ding gehört, was für Erinnerungen oder Gefühle daran hängen, wie das alles im wahrsten Sinne des Wortes zusammenhängt. Virnichs Titel regen häufig auch diese Lesart an. So auch "Onkel Man and me, watching TV and dancing (La Isla Bonita, Madonna 1987/Westberlin)”. Der Titel assoziiert sich mit einem Moment, als Virnich drei Jahre alt war. 1987 tanzte sie im noch ummauerten Westberlin mit ihren supergut aussehenden schwulen Onkel, der auch noch zu allem Überfluss "Man" hieß, nicht Manfred, zu dem Madonna Song, der auf MTV lief.

Mit drei hat man meistens keine detaillierten Erinnerungen. Da ist nur ein Geschmack, ein Gefühl, etwas Unerreichbares, nach dem man ein Leben lang sucht. Dieses Etwas verselbstständig sich, wird modelliert, immer wieder neu inszeniert. Dennoch bleibt der Moment unerreichbar, wird zu einer Art Metageschichte, wie etwa bei Huysmans oder Proust, der seine Madelaine bis in alle Ewigkeit in den Lindenblütentee taucht, zu Literatur, Kunst, zur Betrachtung über Kunst, Literatur, eine ästhetische Form, reine Haltung, die überdauert.

Weder Proust noch Madonna

Virnich ist nicht Proust. Und auch nicht Madonna. Wie sagt Joan Cusack in der Eighties-Komödie "Working Girl" zu Melanie Griffith: "Sometimes I sing and dance around the house in my underwear. Doesn't make me Madonna." Virnich ist dabei aber tatsächlich ein "Material Girl": ihre Werke sind mehr Form als Geschichte, mehr Beschäftigung mit Materialien als Gefühlen und Erinnerungen.

Für ihre "La Isla Bonita"-Arbeit platziert sie die Fotografie eines mit Plastiknetzen verkleideten Baugerüsts in Lissabon, die sie irgendwann aufgenommen hat, auf rot-silbernem Brokat. Dann verdeckt sie es unter einem weiteren, superfeinen, mit Stickereien verzierten Netzgewebe, einer Mantilla: einem Schleiertuch, das seit dem Mittelalter von spanischen Frauen in katholischen Kirchen getragen wird. Virnich thematisiert dabei die Bezüge zwischen Bauwerk, Körper, Kopf, die Idee der Verschleierung, des Verbergens, des Mysteriums und der Scham.

Scham und Trauer spielen in dieser Arbeit eine unterschwellige Rolle. Nur wenige Jahre nach dem Madonna-Augenblick starb Virnichs Onkel an den Folgen von Aids. Sie hat sein Sterben miterlebt. Diese Erfahrung formuliert sich in der Materialität, Transparenz, Haptik der Arbeit, wird deutlich in der Kluft zwischen Bild und Abbild, der Sehnsucht und dem Objekt, das man nicht in Besitz nehmen kann, weil es genauso unerreichbar ist wie der vergangene Moment, die Erinnerung.

Die Utopie des "schmutzigen Materials"

Virnich greift dabei den Kanon und das Denken von Post-Minimal auf, von Leuten, in den 1960ern und 1970ern Intimität, Vergänglichkeit, Tod, "schmutziges", emotional, sexuell, schamanisch konnotiertes Material ins Spiel gebracht haben: Eva Hesse, Paul Thek, Richard Tuttle, Robert Smith, natürlich auch Beuys. Das Ausbrechen aus dem White Cube, den Konventionen, war in den 1960ern und 1970ern mit einer großen Utopie verbunden: dass Kunst gesellschaftlich etwas bewegen kann, sich mit dem Leben und der Gesellschaft vereint.

Das geschah damals nicht nur als Reaktion auf die rigide, puristische Formensprache des Minimal, sondern als auf eine Epoche großer Umwälzungen: die Studentenrevolten von 1968, Vietnam, sexuelle Revolution, Bürgerrechtsbewegungen. In ihrer Installation "Metatropí" (2023), für die Gruppenausstellung "Textiles Areal" im Skulpturenmuseum Marl greift Virnich die Architektur des Tonstudios in Jean Luc Godards Film "Sympathy for the Devil ", (1968) auf, der dokumentiert, wie die Rolling Stones das gleichnamige Stück aufnehmen.

Unterbrochen wird die Dokumentation von Spielszenen, in denen Black Panthers auf einem Schrottplatz herumlungern und aus revolutionären Texten, unter anderem von Eldridge Cleaver lesen und sich dann Gewehre zuwerfen. Eine Gruppe weißer Frauen wird entführt, misshandelt und schließlich aus dem Off erschossen; ihre blutigen Körper sind anschließend in verschiedenen Tableaus im Film zu sehen.

Aber Mutti raucht wieder

Eine Stimme doziert über den Marxismus, die Notwendigkeit einer Revolution und andere Themen, an denen Godard damals interessiert war. Virnich baut aus unterschiedlichen Rahmen, die Stoffwände nach, die im Film zur Schalldämpfung im Studio stehen. Die Maße der Wände entsprechen fast exakt den Maßen ihres Berliner Ateliers. Zugleich setzt sie statt der monochromen Stoffe ihre eigenen dekonstruierten Werke ein.

Die revolutionären Utopien von einer gerechteren, emanzipierteren, progressiven Gesellschaft werden heute von Institutionen in der Kunst- und Wirtschaftswelt eher lustlos runtergebetet, die mit brennenden Wäldern, marginalisierten, vergessenen Menschen, Obdachlosen, Trans-Menschen in Dialog treten, eine Plattform bieten möchten. Aber Mutti raucht wieder, steht vor der Tür der Galerie, weiß nicht, was sie denken oder fühlen soll. Da stehen schon ganz viele Leute am Nullpunkt, ohne große Utopien, denen es genauso geht. Und ihre Gedanken und Gefühle, liegen und fliegen prekär und unsortiert herum, Material, das nicht spricht, nichts erzählt, sondern einfach nur ist, (noch) da ist, vielleicht übriggeblieben, wie zerschlissene Altkleider auf dem Flohmarkt, ein altes Stück Stoff, das einem eine Freundin schenkt, um noch "irgendwas" damit zu machen, eine Perle, die man in einer Wühlkiste findet, ein Stein, ein Stück Knochen, das man am Strand aufhebt.  

Virnich will, dass unsere Nicht- Erzählungen, Nicht- Utopien, dieses problematische, peinliche, konterminierte Material genau ansehen: die Schlangenhaut, die mit Rittersporn gefärbte Baumwolle, den darauf genähten Tierhoden, dass wir das ernst nehmen -  ihre Schönheit, ihr Potential, ihre Realität. Das ist in Endzeiten einmal ein Anfang, as a matter of fact.