Deutsche Guggenheim, Berlin

Europa in Sichtweite

Was in letzter Zeit aus Nordafrika wahrgenommen wurde, erschien dringlicher als Kunst. Und selbst wenn man Kunst für das Wichtigste überhaupt hält – es gibt nicht viel zu berichten über die Szene dort, eigentlich gibt es nicht einmal eine. Aber es gibt Yto Barrada, die in ihrer Heimatstadt an der Küste von Marokko die Cinémathèque de Tanger betreibt, einen im arabischen Raum einzigartigen Treffpunkt. US-Regisseur Darren Aranofsky („Black Swan“, „The Wrestler“) ist Mitglied im Berater-Board.

Das Engagement der 1971 geborenen Künstlerin, ausgebildet in Paris, grenzt an Sozialarbeit, doch das darf nicht den Blick auf ihre Kunst verstellen: Barradas Fotografie ist keineswegs gesellschaftskritische Reportage. Themen wie verantwortungslose Baupolitik, Abwanderung, Vernichtung von Natur, Unterdrückung der Meinungsfreiheit sind in ihren Werken zwar virulent. Aber Barrada beschreibt ihr Milieu, ihre Welt mit dem gleichen Selbstverständnis wie etwa Paul Graham oder Wolfgang Tillmans.

Die Serien „A Life Full of Holes – The Strait Project“ oder „Iris Tingitana“ zeigen das Leben an der Straße von Gibraltar, Europa in Sichtweite. Das Foto „Belvedere 1“ zum Beispiel wurde an der Stelle aufgenommen, von der aus viele Afrikaner über die Meerenge nach Spanien kommen. Um ein politisches Problem zu illustrieren, eignet es sich trotzdem nicht.

Als Fotografin meidet Barrada exotistische Zugriffe. Und so ist die Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten auch eine Herausforderung für den westeuropäischen Blick, die Bilder aus den Nachrichten und vorgefasste Botschaften zu vergessen. Yto Barrada wird selbst dazu beitragen, denn ihre Hängung in Ausstellungen kennzeichnet immer Offenheit und Leichtigkeit. Sie lässt den interkulturellen Ballast verfliegen und macht Platz für Dinge wie ästhetische Rezeption.

Als „Künstlerin des Jahres 2011“ wurde mit dem Preis der Deutschen Bank also keine Repräsentantin des arabischen Raums ausgezeichnet, sondern eine intelligente Künstlerin auf der Höhe ihrer Zeit.

Deutsche Guggenheim, Berlin, 15. April bis 19. Juni