Künstler Timm Ulrichs wird 75

Lebendes Kunstwerk statt Facharbeiter

Er ist ein Wegbereiter der Konzeptkunst und Meister der Selbstinszenierung: Der documenta-Teilnehmer Timm Ulrichs ließ schon seinen eigenen Grabstein meißeln und posierte auf einem Feld als menschlicher Blitzableiter

Hannover (dpa) - Vor mehr als 50 Jahren erklärte Timm Ulrichs sein Leben zur Kunst, bis heute verfolgt er diesen Weg kompromisslos. In der Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag gab es eine Liveschaltung vom Kunstverein Hannover direkt in die kaum möblierte Wohnung des Künstlers. Die Ausstellungsbesucher konnten beobachten, wie sich der frühere Professor der Kunstakademie Münster zwischen Papierstapeln, Grafiken und Plakaten bewegte. Big Brother lässt grüßen.

An seinem Alltag hat sich fünf Jahre später kaum etwas geändert, auch wenn keine Kamera mehr das Geschehen überträgt. Der selbst ernannte "Totalkünstler", der am Dienstag (31. März) seinen 75. Geburtstag feiert, tüftelt an mehreren Projekten gleichzeitig. "Man muss nach den Sternen greifen, um ein paar Steine in die Hand zu kriegen", sagt er. Unzählige Entwürfe, Bilder und Skulpturen lagern in seinem Depot in einem alten Fabrikgebäude, das er sich mit Kollegin Christine Möbus teilt.

Der gebürtige Berliner, der im Oldenburger Land aufwuchs, blickt mit Humor und spöttischer Distanz auf die Welt und den Kunstbetrieb. Auf der Messe Art Cologne posierte er einst mit dunkler Brille, Blindenstock und einem Schild mit der Aufschrift "Ich kann keine Kunst mehr sehen!" um den Hals. Schon 1970 beschäftigte er sich in seiner Krefelder Schau "Totalkunst" mit Physik und Astronomie, wie es heute bei vielen jüngeren Künstlern en vogue ist. "Seine Arbeiten bleiben gegenwärtig und stark. Da ist nichts von einer modischen Attitüde drin", sagt Möbus.

Bei den Olympischen Spielen 1972 sorgte Ulrichs in einem vergitterten überdimensionalen Hamsterrad für Aufsehen, täglich absolvierte er in diesem Laufradkäfig die Marathon-Distanz von 42 Kilometern. Egal ob Film, Fotografie, Skulpturen oder Konkrete Poesie - der Vielleser ("sechs bis sieben Stunden am Tag") lässt kaum ein Genre aus. "Die meisten Künstler sind Facharbeiter, die von Bild zu Bild nur kleine Schritte gehen. Für mich ist Kunst Forschung, nicht Warenproduktion. Ich habe nie versucht, ein Markenzeichen zu entwickeln", sagt der Professor, der äußerlich wie ein Alt-68er-Revolutionär wirkt.

Seit den 80er Jahren ist Kunst im öffentlichen Raum ein großes Thema für Ulrichs. In einer Ecke seines vollgestopften Depots stehen die Entwürfe. "Der große Abwasch" zum Beispiel heißt das Modell für einen Brunnen, bestehend aus nachlässig zusammengestellten Tassen. Die Idee dafür sei ihm als einziger Mann in einer WG mit sechs Frauen gekommen, erzählt Ulrichs: "Das Leben dort hatte ich mir so leicht vorgestellt, aber ich war der einzige, der sich um den Abwasch kümmerte." In Langenhagen bei Hannover und im sächsischen Chemnitz scheiterte das Projekt - möglicherweise an Humorlosigkeit. Ulrichs ist zuversichtlich, dass der Geschirr-Brunnen 2016 endlich realisiert wird, und zwar in der niedersächsischen Kurstadt Bad Nenndorf.