Das Ende der Telefonzelle

Schützende Inseln in der Stadt

Die Telefonzelle wird es nun bald nicht mehr geben. Kein Grund zur Nostalgie, aber ein bisschen in Erinnerungen schwelgen darf man trotzdem

Seit vergangene Woche bekannt wurde, dass hierzulande endgültig die öffentlichen Fernsprecher vom Netz genommen werden – erst die Münzsprecher und ab kommendem Januar auch die Kartentelefone –, frage ich mich, wann ich zuletzt überhaupt ein öffentliches Telefon benutzt habe. Ich habe wohl seit meinem ersten Handy Ende der 1990er so ein Gerät nicht mehr benutzt, und so dürfte es den allermeisten Menschen in Deutschland gehen. Das eigentliche Wunder ist, dass es öffentliche Fernsprecher bis heute überhaupt noch gegeben hat.

Während meiner Kindheit und Jugend in den 80ern und 90ern waren Telefonzellen präsente und wichtige Orte. Für die Generationen davor wohl noch viel mehr. Es roch in den Kabinen zwar immer widerlich, aber trotzdem spielte sich darin viel ab. Man hatte immer zwei Groschen in der Hosentasche dabei, um die Eltern anzurufen, damit sie uns vom Freibad oder der Schule abholen konnten. Regnete es, konnte man darin Unterschlupf finden, und die Telefonbücher in den Zellen waren so etwas wie die ersten Stalking-Suchmaschinen. Hier fand man Telefonnummern und Adressen von verhassten Lehrkräften, um ihnen ungewollte Pizzen nach Hause zu bestellen. Die Älteren machten darin viel unanständigere Sachen.

In den Zellen war immer irgendetwas verkokelt, und wenn es etwas gab, von dem andere nichts mitbekommen sollten, etwa heimlich den Schwarm anzurufen, hat man das von der Telefonzelle aus gemacht. Bei uns auf dem Schulhof stand eine rote englische Telefonzelle, die von der Partnerstadt Wakefield gespendet wurde. Irgendwann kursierten fotokopierte Blätter mit 0130-Hotline-Gratisnummern wie geheime Listen auf dem Schulhof. So konnte man in den Pausen den Kundenservice von Fanta oder irgendeiner Bank angerufen. Wenn auch die Gespräche immer kurz und humorlos waren, umsonst telefonieren wirkte wie ein Wunder. Noch besser: Manchmal fanden sich vergessene Münzen im Geldfach.

Charmante Nebenschauplätze der Technikgeschichte

Telefonzellen waren beinahe transzendente Orte. Der Kaufhauserpresser Arno Funke alias "Dagobert" führte seine Telefonate mit der Polizei von Ost-Berliner Telefonzellen aus, weil diese noch nicht digitalisiert waren und somit schwerer zu identifizieren. In solch einer wurde er letzten Endes aber auch gefasst.

In der Popkultur verschwimmen in Telefonzellen das Private und Öffentliche. Ob Clark Kent sich in Telefonzellen (seltsamerweise immer unerkannt) umzog, um zu Superman zu werden. Oder Harry Potter, der via Telefonzelle geheimen Zugang zum Zaubereiministerium erhielt. Telefonzellen boten auch Schutz vor Gefahren, wie für Tippie Hedren in Hitchcocks "Die Vögel". Telefonzellen waren trotz aller Widrigkeiten und Öffentlichkeit auch diskrete Orte, die wie schützende Inseln waren. Manchmal sogar Orte des Eskapismus, wenn man an Dr. Who denkt, der in seiner TARDIS durchs Universum navigierte. Oder Bill und Ted, die in einer Telefonzelle durch die Zeit reisten.

Wer einmal in der 1. Klasse des ICE erlebt hat, wie sich dort Manager und Chefs telefonisch zu übergockeln versuchen, sehnt sich schalldichte Kabinen zum Telefonieren wieder zurück. Aber auch junge Agentur-Daddys, die auf dem Spielplatz statt mit ihrem Baby zu spielen, in ihre AirPods permanent Dinge wie "Assets", "Client" und "Brand Values" brabbeln und anderen Bullshit-Bingo-Käse mit der halben Welt teilen müssen, sind Zeichen der Ära der mobilen Kommunikation – aber wahrscheinlich ist hier eher Männlichkeit und gar nicht die Technik das Problem.

Es gibt also wenig Gründe, verklärt nostalgisch irgendwelche guten alten Zeiten heraufzubeschwören. Aber schon witzig, wie man uns glauben lassen wollte, dass Telefonkarten begehrte Sammelobjekte und Wertanlagen werden würden, die es mit der blauen Mauritius aufnehmen könnten. Es sind skurrile wie charmante Nebenschauplätze in der Technikgeschichte. Allerdings, ein öffentlicher Telekommunikations-Space, der anonym funktioniert und dabei nicht permanent private Informationen und Daten mit Unternehmen teilt, klingt so betrachtet fast schon wieder wie eine Zukunftsvision. Vielleicht sollte man aus so einer Idee mal was machen.