"On:Off"-Kolumne

Lob der Gaming-Kultur

Noch immer werden Videospiele von der Kulturelite nicht ernstgenommen. Dabei gibt es derzeit einiges, was wir von Games lernen können - und was uns durch diesen harten, einsamen Winter bringen kann

Als ich vergangenen Monat für diese Kolumne den Vorschlag machte, etwas über die kommenden Next-Gen-Konsolen PS5 und Xbox Series X zu schreiben, entgegnete mein Redakteur nur, dass die Monopol-Leser*innen zu diesem Thema (Gaming) offenbar keinen so dollen Zugang hätten und eine Netflix-Filmkritik angebrachter sein könnte. Fair enough. Wir schreiben das Jahr 2020, und noch immer wird die Gattung Videospiele von (meiner Meinung nach zu) wenigen in der Kunst- und Kulturelite ernstgenommen. Ich sage das mal so harsch und reißerisch. Dabei gibt es in der Welt der Kulturmedien derzeit einiges, was wir von Games lernen können und uns unter Umständen auch durch den anstehenden harten, einsamen Winter bringen kann.

Vergangene Woche streamte die US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez (kurz AOC) von der Demokratischen Partei auf Twitch eine Session des derzeit angesagten Games "Among Us". Über 500.000 Menschen schauten live zu, und die Recaps auf YouTube und anderen Social Media wurden ebenfalls mehrere hundert tausend Male angeguckt. Der Stream auf Twitch verbucht mittlerweile über 5,4 Millionen Views. Die Politik fragt sich ja immer, wo und wie man die jungen Leute abholen soll, und mit Luftballons und Pfefferminzbonbons in der Fußgängerzone ist es im seltensten Fall getan. AOC hat als Millennial die Prinzipien des Streamings und die Potentiale von Gaming-Räumen gut verstanden. Sie spricht diese Sprache, ohne dabei wie Zerstörerzerstörer Philipp Amthor einen Besen im Allerwertesten zu tragen. Und gerade "Among Us" ist mal wieder ein interessantes Beispiel für Zufall und richtiges Timing in der Medienwelt.


Das Online-Multiplayer-Game wurde bereits 2018 releast, verzeichnete in den ersten zwei Jahren aber eher maue Zugriffszahlen und Community-Größen. Erst im Juli dieses Jahres wiederentdeckte der Twitch-Streamer Chance "Sodapoppin" Morris das Game, machte es populär und seitdem gilt "Among Us" als eines der meistgehypten Games. Das Prinzip ist ein bisschen wie bei den Brettspielen "Cluedo" oder "Scotland Yard". Auf einer Raumstation gibt es einen Impostor/Bertüger, der eine Raumschiffcrew meuchelt und sabotiert, und die Gruppe muss gemeinsam wie bei einem Escape-Game schnellstmöglich herausfinden, wer eben dieser Impostor ist. Einfaches Prinzip, große Wirkung.

Es ist in Zeiten erneut anstehender Lockdowns weltweit keine Forschungserkenntnis, dass die Gruppendynamiken, die Kommunikation, das gemeinsame Erlebnis wohl im Mittelpunkt dieser Gaming-Experience stehen und weniger hochauflösende Blockbuster-Grafiken. Wo sonst ist es heute noch ohne weiteres möglich, wildfremde Menschen auf einen Plausch zu treffen? Oder ein gemeinsames Event zu erleben wie bei einem Konzert oder Clubnacht?

Ähnlich erfolgreich war dieses Jahr der PlayStation-Titel "Fall Guys: Ultimate Knockout". Ein putziges Wettrennen mit Massenstart und halsbrecherischen Schikanen wie man sie von "Takeshi’s Castle" kennt. Bis zu 60 Spieler*innen können hier an den Start gehen. Wer Erste/r ist, gewinnt, basta. Battle Royale nennt sich das darwinistische Prinzip des "last one standing", wird mittlerweile sogar bei Klassikern wie Tetris und Super Mario Bros. angeboten (durchaus unterhaltsam) und gilt auch für vor allem bei jungen Menschen enorm erfolgreiche Spiele wie "Fortnite".

Games schaffen Interaktion und Identifikation

Der Rap-Superstar Travis Scott veranstaltete im April ein Konzert auf dieser Gaming-Plattform. 27,7 Millionen Fans schauten zu und machten mit. Ein Vielfaches guckte sich im Abgang die Aufzeichnung und Re-Streams an. Das ist sehr effizient, und auch wenn die Veranstaltungsbranche derzeit mehr als gebeutelt ist, solche Zahlen sind und waren live unvorstellbar. Hier wurde ein neues Fass aufgemacht. Selbst die Loveparade in Berlin zu Hochzeiten in den 90ern hatte im Vergleich hierzu gerade mal 1,4 bis 1,7 Millionen Menschen, die nach dem Wochenende die Stadt wie eine Müllhalde hinterließen.

Aber auch im Underground finden sich Beispiele. Das Festival CTM kooperierte mit Club Matryoshka und veranstaltete im August ein Festival in dem Spiel "Minecraft". Auch hier gab es eine individuelle und kollektive Rave-Erfahrung und wenn hier auch keine Millionen Menschen dabei waren, so doch wenigstens ein paar Tausend. Aber ist das nicht so wie im realen Leben? Alva Noto spielt ja auch nicht im Olympiastadion (beziehungsweise noch nicht).

Außenstehende Nörgler mögen einwenden, dass die ganzen Aufzeichnungen von Travis Scott auf "Fortnite" und ähnliche Auftritte ja nur langweilig wären und man derzeit ohnehin mit Videokonferenzen, DJ-Streams und anderen teils hilflosen, digitalisierten Konzepten der Kultur- und Ausstellungsbranche zugeschüttet wird. Das stimmt. Zwischen Games und solchen Streams gibt es aber einen wesentlichen Unterschied. Der Grad der Interaktion und Identifikation ist ein anderer.

Geplanter Eskapismus

Man stellt fest, dass Räume in Games infrastrukturell schon einfach viel weiter sind. Spieler*innen machen seit Jahren nichts anderes, als aus dem "Homeoffice" heraus mit der Welt zu interagieren und spektakuläre Dinge zu erleben. Games brauchen kein Hygienekonzept. Gemeinsames Spielen verbindet auf andere Arten und Weisen, als nach einem gut vorgetragenen Song auf YouTube das Applaus-Emoji anzuschmeißen. Das ist, als wenn man als alter Sack eben nicht auf die coole Party eingeladen wird und von außen richtet, das sähe ja alles richtig kacke aus. Um die Logiken und Möglichkeiten der Gaming-Räume zu verstehen, muss man eben selber spielen und aktiver Teil dessen sein. Travis Scott ist begeisterter "Fortnite"-Spieler, und das sieht man der aufwendigen, detailverliebten und bestimmt sehr teuren Produktion seiner Performance an.

Nun hat seriöses Gaming aber ein Problem, es ist gar nicht so leicht. Es bedarf Intelligenz, logisches Verständnis, Reaktionsschnelligkeit, Skills, Training, und gerade bei Online-Battle-Royale-Formaten gibt es wohl nichts Frustrierenderes, als von einem Neunjährigen abgemurkst und danach verhöhnt zu werden. Man muss wie im echten Leben halt auch verlieren können. Die Welt der Spiele ist indes groß und vielfältig.

Wie meine Herbst- und Winterplanung aussieht? Ich kuratiere derzeit eine Liste von Spielen, die ich auf der PS4 noch spielen möchte, bevor ich die Anschaffung einer neuen PS5 plane, die bekanntlich dieser Wochen erscheint. Ich freue mich auf baldige Blockbuster-Games wie "Spider-Man: Miles Morales" und "Horizon Forbidden West". Durch den ersten Lockdown brachte mich - wie meine geschätzte Kolumnenkollegin Anika Meier auch - das Switch-Game "Animal Crossing: New Horizons". Bei einem Telefonat erzählte ich ihr, dass das Spiel mich wahrscheinlich davor bewahrt hat, fünf Kilogramm Xanax über das Frühjahr verteilt zu konsumieren. So ein geplanter Eskapismus schenkt wie ein Sommerurlaub Zuversicht. Und das mit dem Sommerurlaub … ach, fangen wir damit gar nicht erst an. Bleiben Sie zuallererst gesund!