Als Teenager hatte ich einen Lieblingsfilm. Er hieß irgendwas mit "13", was mich zu dieser Zeit allein schon vom Titel her magisch anzog. Ich glaube, weil einem schon früh vermittelt worden war, 13 sei das sagenumwobenste aller zur Verfügung stehenden Alter. Das Alter, in dem das Leben richtig losgeht.
Der Film jedenfalls handelte von zwei jungen Frauen, die auf Betten herumlagen und Lollis lutschten, sich dazwischen mit heißen Nadeln Zungenpiercings machten und sich ins Koma soffen, bis eine von beiden schwanger wurde, oder drogenabhängig, oder so ähnlich. Der Film und seine Protagonistinnen stellten für mich damals ein immenses Faszinosum dar, wahrscheinlich wegen der sexuell-mysteriösen Aufladung der Zungenpiercing-Sache und der Krassheit dieser jungen Frauen in den bauchfreien Tops insgesamt.
Ich bin in irgendeiner mittelgroßen süddeutschen Stadt aufgewachsen, die ein Einkaufszentrum hatte, das "City Galerie" hieß, was für mich damals deren größte Attraktion darstellte, weil ich dort jeden zweiten Nachmittag war, um Nici-Tiere, Bügelperlen-Ratgeberliteratur oder irgendwas von H&M zu kaufen. Jedenfalls kam mir das alles in dem Film, die kleinen Bungalows amerikanischer Vorstädte, riesige Autos und die durchaus realistisch erscheinende Möglichkeit, Prom Queen zu werden und von einem Typen mit einem Flanellhemd in einem Pick Up herumgefahren und unsäglich heiß gefunden zu werden, um einiges glamouröser und begehrenswerter vor als mein Leben, wie es sich bis dahin für mich erschlossen hatte.
Ja, es gab ein Plüschtelefon
Ich erinnere mich noch genau an das Zimmer der Hauptprotagonistin aus dem Film: Es war ein Teenagerzimmer, das aussah wie Teenagerzimmer in allen amerikanischen Filmen aussehen, in denen sich die in ihrer Normalität irgendwie doch über die Maßen mysteriös-krassen Protagonistinnen zurückzogen, geheime Briefe in Spieluhren steckten, sich die Unterarme aufritzten und dazwischen auf ihrer Fender Stratocaster zupften. Die Wände hingen voller Poster, dazwischen Postkarten mit glänzenden Kirschen und anderen girly Schweinereien drauf, es gab eine mit Stickern beklebte Boombox und ein Plüschtelefon. Ja, ein Plüschtelefon.
Ich war Anna aus Augsburg und war, obwohl mir diese Tatsache wohl gerade erst im Zuge umfassender neuronaler und kulturtechnischer Subjektivierungsmechanismen überhaupt bewusst geworden war, schon dabei, es so schnell wie möglich wieder zu verdrängen. Ich fühlte mich den Frauen in dem Film näher als Verena und Kathi und den anderen Nici-Tier-tragenden Gymnasiasten-Nieten, die mein tatsächliches Leben so hergab. Ich wusste, ich war zu Größerem bestimmt, und weil mir die Angelegenheit mit der Größe wohl nur ein paar Handgriffe entfernt zu sein schien, beschloss ich also zu tun, was zu tun war - und nun kommen wir zur Pointe dieser Geschichte. Denn das, was mir einfiel, war eben gerade nicht das, was Eltern damals befürchtet haben: Nämlich, dass die Jugend von solchen Filmen zum Komasaufen und intensivem Leben allgemein angestachelt werden könnte. Nein, ich wollte gar nicht Komasaufen, ich hatte viel zu viel Angst vor Alkohol, und um nichts in der Welt hätte ich mir eine heiße Nadel in die Zunge gejagt. Nein, es war: Inneneinrichtung.
Ein Hotel, auf völlig individuelle Art verschandelt
Irgendwie muss ich gedacht haben: Wenn ich ich meine Wände mit girly Schweinereien und Postern halbnackter Stars bekleben würde (es waren irgendwelche Poster, die ich aus den Zeitschriften riss, ich hatte in großen Teilen keine Ahnung, wer die Leute auf den Bildern waren, es diente ja bloß dem Kulissenbau), wenn ich ein Plüschtelefon besorgen und meinen Kassettenrekorder mit Stickern bekleben würde, dann würde sich mein Leben mit der Zeit wohl oder übel dem angleichen, was im Film geschah. Und dann würde jemand wie diese krasse Frau auf meinem Bett liegen und sich heiße Nadeln in die Zunge jagen und der Typ im Flanellhemd würde Steine gegen mein Fenster werfen und mir ein Herz aus Teelichtern legen oder mir seine Rasierklinge schenken, und wir würden Blutsbrüderschaft schließen und wichtige Dinge im Wald vergraben. Jedenfalls würde das Leben dann wirklich endlich losgehen.
Neulich war ich in Polen in einem Hotel. Es war ein altes Hotel, in dem irgendwann einmal Zimmermädchen mit weißen Hauben klirrende Tabletts durch endlose Gänge schoben und livrierte Liftboys verlorene Seelen zum Selbstmord oder zum Romane schreiben animierten. Ich mochte es, weil es einer von den Orten war, die noch nicht vollständig der Industriedesign gewordenen Vorhölle des immer überall Gleichen zum Opfer gefallen, sondern noch auf völlig individuelle Art verschandelt war.
Einer des größten Verluste unserer Zeit ist, glaube ich, das Potential individueller Verschandelung. Haben Sie mal die saisonale Dekoration in Optikerläden studiert? Menschen sind zu Erstaunlichem in der Lage, wenn man sie lässt.
Begegnung mit einem tuffigen Blumenstillleben
Mein Zimmer in besagtem Hotel war jedenfalls wundervoll. Es gab grüne Tapete, baumrindengemusterte Böden und großartige Kunst. Kunst, die ich nicht verstand. Nicht im Geringsten. Sowieso verstand ich beinahe nichts dort, die Gründe für die Auswahl der Tapeten, die historischen geschmacklichen Verwirrungen um die Lampenschirme und Gardinen-Arrangements, die Fliesengestaltung der Rezeption, all das war mir völlig verziffert. Am meisten von allem kriegte mich jedoch die Kunst. Es gab in meinem Zimmer zwei Malereien: Das eine war eine irgendwie kubistisch, impressionistische (ich hantiere mit Begriffen, ich habe wirklich keine Ahnung) Häuserlandschaft in Pastellgelb, das andere ein tuffiges Blumenstillleben, signiert von einem gewissen P. Sorel.
Googelt man P. Sorel, so findet man neben gleichnamigen grausigen Winterstiefeln von Zalando tatsächlich einen Künstler, dessen Arbeiten (vorrangig Blumenstillleben) auf dem sogenannten Etsy-Secondary-Market zirkulieren. Unter einer der Arbeiten findet sich folgende Beschreibung (Begleittexte von angebotenen Waren auf Etsy sind im Übrigen ein zweites Feld beispielhafter menschlicher Ertüchtigung in exquisiter verbaler Verschandelung – besonders dann, wenn man das Ganze noch durch Google Translate jagt):
"Dieses hervorragende Öl auf Leinwand ist vom französischen Künstler Pierre Sorel, der im Jahr 1938 geboren wurde. Blumenstillleben ist die Arbeit, der Pierre Sorel bekannt ist. Seine Arbeit ist weltweit begehrt und er ist ein Sammlerstück Französisch Künstler. Diese ursprüngliche Arbeit leuchtet positiv auf der Leinwand. Es ist ein wunderschön ausgeführt Gemälde einer Vase (was mir aussieht) Mimosen, Mohnblumen und Rosen. Die Arbeit ist in der unteren rechten Sorel unterzeichnet."
Die Unerträglichkeit der künstlerisch hochgerüsteten Wohnung
Mittlerweile habe ich alle zur Verfügung stehenden magischen Alter überschritten und träume von anderen Dingen als melancholischen Boys in Flanellhemden (die meiste Zeit zumindest). Inneneinrichtung betreibe ich trotzdem noch aus Leidenschaft. Vor ein paar Jahren habe ich zum Beispiel gemeinsam mit einer Freundin ein Bild des Malers Octavio Garabello gekauft, das ich sehr liebe. Trotz oder gerade wegen all der Investitionen meinerseits, das weiß ich noch nicht genau, ist mir meine Wohnung inklusive des Garabellos in den letzten Jahren irgendwie und unverkennbar unerträglich geworden, was, und das ist eher ein diffuses Gefühl, so ähnlich wie die Sache mit dem Zungenpiercing, irgendetwas mit dieser Inneneinrichtungs-Geschichte zu tun haben muss.
Wenn ich hier so sitze (ich sitze hier gerade wirklich so) und diese Dinge hier anschaue, die Arbeit von Octavio Garabello, die kleine lustige Statue aus Indien, die so aussieht wie eine Sphinx ohne Beine und ohne Haare, die weint und zu deren Kauf ich meine damalige Reisebegleitung gezwungen habe, obwohl sie (seine Worte) "das mit Abstand hässlichste Ding der ganzen Stadt" war, dem ich nicht unbedingt widersprechen würde, das Sideboard, das ich vor ein paar Jahren gekauft habe, und für das ich mich jetzt irgendwie schäme, weil es wirklich unübersehbar Mid Century ist, die Bücher, von denen ich viele fotografiert, aber nur die Hälfte gelesen habe, und den chinesischen Holzschirm, den ich im Treppenhaus gefunden und hier aufgespannt habe, weil es mich irgendwie an das Dachzimmer aus "Sara, die kleine Prinzessin" (eine Kolonial-Romanze für Kinder) erinnert, dann komme ich mir ein bisschen so vor, als wäre ich gar nicht da.
Die Kollateralschäden ungelebter Geschichten
Die Einsicht trifft mich wie der Schlag: Die Gründe aus denen ich diese Dinge hier hingestellt habe, haben so wenig mit mir zu tun wie die Alte mit dem Piercing aus dem Film. Es sind die Kollateralschäden ungelebter, aber eben unbedingt gewollter Lebensgeschichten, zu denen ich wahrscheinlich unter anderem deshalb nicht kam, weil ich so damit beschäftigt war, meine Wohnung einzurichten.
Das Prinzip "Zustände ausstaffieren und warten, dass das Leben nachzieht" lässt sich auf fast alle meine Versuche von Wirksamkeit im Kleinen und Allgemeinen anwenden. Auf die schwarzen Haarsträhnen und die Silikonkissen im BH mit 14 genauso wie auf das Bücherregal, den grünen Lipgloss, den ich letzte Woche gekauft habe, jeden einzelnen Whiskey Sour, den ich bestelle, meinen Instagram-Account und meinen Seidenschlafanzug.
Irgendwie hasse ich also Octavio Garabello, weil ich ihn mir ausgesucht habe. P. Sorel habe ich mir nicht ausgesucht. P. Sorel ist mir deshalb sympathischer. Er hat nichts mit mir zu tun. Hotelzimmer sind gut, weil sie einen von der Konsumenten-Fiktion der Person, die man aus Gründen, die man nicht mehr nachvollziehen kann, geworden ist, erlösen. Sie begegnen einem aus einem Kosmos der Verschandelung heraus, den man nicht begreifen kann und muss, meinen nicht mich und sind trotzdem gemütlich. Ich werde nie ein Zungenpiercing haben, weil ich ein verschissener Angsthase bin. Aber P. Sorel weiß das nicht. P. Sorels Malerei hat keine Ahnung, wer ich bin. P. Sorel kann mich nicht ertappen. Ich werde jetzt diesen Brief zerknüllen und in meine Spieluhr stecken, zu meinem Plüschtelefon gehen und die Nummer wählen, die ich unter P. Sorel im Internet gefunden habe. Heute ist der Tag, an dem mein Leben endlich beginnt.