Tief drinnen, mitten im sächsischen Erzgebirge, fließt die Zwickauer Mulde durch ein malerisches Tal. Der erhöhten Bundesstraße 283 durch die Gemeinde Zschorlau folgend, kann man sich in dieser abgeschiedenen Gegend auf eine sprichwörtliche Fahrt ins Blaue begeben. Denn fernab jeder größeren Stadt liegt in dieser Idylle das älteste Blaufarbenwerk der Welt – eine Fabrik, in der über vier Jahrhunderte hinweg Pigmente für Kobaltblau und Ultramarin gefertigt worden sind. Folgt man bei Albernau einer weiten Kurve, in der die verlassenen Gebäude der einstmals über 100 Arbeiter der Anlage stehen, dann tut sich nach einigen weiteren Metern das eigentliche Werksensemble auf – ein Gebäudekomplex mit fast mediterran anmutender weißer Fassade und mit dunkelblauen Fensterumrahmungen. Diese Bauten also, sie beherbergen das weltweit einzige Blaufarbenwerk, in dem noch immer produziert wird: das sogenannte Schindlerswerk.
Es geht an einem langgestreckten Gebäuderiegel vorbei, daneben reihen sich große blaue Plastikfässer auf. Vor dem Haus parken Autos – ausschließlich blaue. Und irgendwann kommt einem ein resolut erscheinender älterer Herr entgegen – blaues Hemd, leicht blau besprenkelte Schuhe. Gerd Bochmann, seines Zeichens Zweiter Vorsitzender des 2017 gegründeten Fördervereins Schindlers Blaufarbenwerk, begrüßt einen freundlich, hält sich dann aber nicht mehr lange mit Floskeln auf.
Zügigen Schrittes führt Bochmann seine Besucher am einstigen Kutscherhaus, am Casino und an der Direktorenvilla des Werks vorbei und gelangt schließlich zu der eigentlichen Produktionsstätte für die blauen Pigmente. Wo sich bis heute das gut erhaltene, blau-weiß gestrichene Gebäudeensemble erstreckt, hatte sich im Jahr 1649 der aus Böhmen stammende Unternehmer Erasmus Schindler mit seiner Familie niedergelassen, um das letzte der vier großen sächsischen Blaufarbenwerke zu erbauen. Es dauerte nicht lange, und Schindler erhielt die Konzession zur Errichtung einer Blaufarbenmühle. Laut kurfürstlicher Verordnung konnte bereits im darauffolgenden Jahr mit der Produktion begonnen werden. Die scheinbar ungünstige Abgeschiedenheit des Schindlerswerks sollte sich dabei als Vorteil erweisen.
Weltmonopol für Kobalterze
Nicht nur die Lage am Fluss, dessen Wasserkraft noch bis ins 20. Jahrhundert hinein allen Ansprüchen Genüge tat, erwies sich als günstiger Standortvorteil. Auch die Nähe zu den Schneeberger Kobaltgruben sicherte günstige Konditionen beim Einkauf des für die Produktion so dringend benötigten Erzes. Und nicht zuletzt sorgte die abgeschiedene Lage dafür, dass über die Jahrhunderte hinweg keine Begehrlichkeiten auf das gut 15 Hektar große Gelände geweckt wurden und das Gros der Gebäude somit bis heute erhalten blieb.
Alles war also bestens präpariert für einen ganz großen Coup: Im 17. Jahrhundert nämlich gelang es den vier erzgebirgischen Blaufarbenwerken den Erzeinkauf gemeinsam zu kontrollieren und somit das Weltmonopol für Kobalterze zu übernehmen. Durch Röstung der grauen Gesteine und unter Zugabe von Pottasche und Quarzsand ließen sich die typischen kobaltblauen Gläser schmelzen; und mittels ihrer Pulverisierung entstand schließlich ein hitzebeständiges Blaupigment namens Smalte. Eine Weltsensation! Aus der Abgeschiedenheit des Erzgebirges heraus nämlich fand Smalte bald seinen Weg auf Delfter Kacheln oder venezianische Glasmalerei.
Alles hätte also so weitergehen können, wären nicht genau 200 Jahre später die Erzvorräte zur Neige gegangen. Das gesamte sächsische Blaufarbenwesen geriet plötzlich in eine tiefe Krise. Und auch die Schließung des Schindlerswerks wurde diskutiert. Doch dann, in buchstäblich letzter Minute, entschied man sich 1855 dazu, das Werk zu einer Fabrik für künstlich erzeugtes Ultramarinblau umzubauen. Herzstück des neuen Produktionsprozesses wurde ein Hüttengebäude mit zwölf Reihenöfen samt Schamotttiegeln. Sie konnten aus Schwefel, Soda und Kaolin in langwierigen Oxidationsprozessen das neue Blaupigment erzeugen.
Herr über das leuchtend blaue Pulver
Bei der Beschreibung der einzelnen Arbeitsschritte ist Gerd Bochmann ganz in seinem Element. Schließlich hat der Chemiker sein gesamtes DDR-Arbeitsleben im Schindlerswerk, dem damaligen "Kombinat Lacke und Farben",
verbracht. Er kennt also jeden Arbeitsschritt haargenau. Wo heute ein ultramarinblauer Farbbrocken als Anschauungsmaterial einen der historischen Brennöfen ziert, da hat er das "empirische System", wie Bochmann es nennt, jahrzehntelang gepflegt, gewartet und betreut. Bochmann war der Herr über das leuchtend blaue Pulver.
Und wäre er damals nicht gewesen, am Ende des Produktionsprozesses wäre oft wohl nur ein gräulicher Klumpen herausgekommen. Bei diesem Gedanken muss Bochmann schmunzeln. Er scheint sich gern an die alten Zeiten
zurückzuerinnern.
Dann geht er weiter, um in anderen Gebäudeteilen die historische Trockenmühle oder die sanierungsbedürftige Schlämmerei – "das Enfant terrible des schönen Ensembles" – zu erklären. Schließlich kommt Bochmann auf die jüngere Vergangenheit der Fabrik zu sprechen: auf die "kaum zu erfüllenden Treuhandauflagen", die neue gesamtdeutsche Abgasnorm oder die unübersichtliche Weltmarktstruktur.
Ein Besuch hinterlässt Spuren
All das habe Anfang der 90er-Jahre fast zum Aus des Traditionswerks aus Sachsen geführt. Einige wacklige Monate und viele mutige Investitionen später werden im Schindlerswerk keine Pigmente mehr hergestellt. Man hat sich heute auf die Veredelung und die Präparierung von unterschiedlichsten Pigmenten spezialisiert. Daher birgt das dreigeschossige Magazin an der Stirnseite des Werks auch die einzigen Räume, die nicht mehr vom Leuchten der zauberhaften Blautöne dominiert werden. Hier, unter einem alten Tonnengewölbe, befindet sich das vor bunten Farben nur so strotzende Pigmentlager. Gelb, Rot, Grün, Orange. Wie ein Aufbegehren gegen die blauen Stunden aus der Frühzeit der alten Fabrik.
Ein Besuch des Schindler’schen Blaufarbenwerk hinterlässt also Spuren: Blau funkeln diese am Ende an den Händen und Schuhen, und farbenfroh bleibt die Stippvisite im Gedächtnis der vielen Besucher hängen.