Ein Weltstar in Wuppertal

Bildhauer Tony Cragg wird 75

Tony Cragg, Künstler und Bildhauer, steht im Skulpturenpark an einem Objekt
Foto: Oliver Berg/dpa

Tony Cragg, Künstler und Bildhauer, steht im Skulpturenpark an einem Objekt

Mit seinen eleganten Skulpturen ist der Bildhauer Tony Cragg weltberühmt geworden. Der Liverpooler mit dem deutschen Pass hält aber seit mehr als 45 Jahren einer Stadt die Treue: Wuppertal

Er ist ein Weltstar der Kunst - und seine Wahlheimat ist Wuppertal. Seit mehr als 45 Jahren lebt und arbeitet der international renommierte Bildhauer Tony Cragg in der oft unterschätzten bergischen Stadt. Skulpturen des gebürtigen Liverpoolers stehen in vielen Städten der Welt. Aber seit 1977 hält der Documenta-Teilnehmer, Turner-Preisträger und Commander of the British Empire eisern Wuppertal die Treue.  Dort hat Cragg sich einen Traum erfüllt und einen Skulpturenpark geschaffen, in dem zwischen alten Bäumen die Werke internationaler Bildhauer-Kollegen aufgestellt sind. Der 2008 eröffnete Skulpturenpark ist inzwischen ein Publikumsmagnet und zieht jährlich rund 40 000 Besucher an.

Am 9. April 1949 wird Anthony Douglas Cragg, wie er richtig heißt, 75 Jahre. Und er feiert seinen Geburtstag natürlich in Wuppertal. "Sehr klein", sagt der immer bescheiden auftretende Cragg. Mittags ist ein Essen mit seinen Atelier-Mitarbeitern geplant, den Abend verbringt er im Kreis seiner großen Familie, zu der vier Kinder und inzwischen fünf Enkelkinder gehören.

Viel Zeit hat Cragg aber gar nicht fürs Feiern. Denn seine oft in sich geschichteten und verdrehten Skulpturen, die sich meterhoch in die Höhe schrauben, sind international gefragt. Gerade arbeitet Cragg an seinem bisher schwersten Werk: eine 30 Tonnen schwere und sieben Meter hohe Skulptur aus gegossenem Edelstahl, die in ein Land in Asien geliefert wird. Wohin genau, das verrät Cragg noch nicht.  

Berühren erlaubt

Eine Skulptur von Cragg hat oft einen Wiedererkennungswert, ob sie nun aus Holz, glänzendem Edelstahl, Bronze, Fiberglas oder Plastik gefertigt wurde. Häufig meinen Betrachter in ihnen wie von einem gigantischen Luftzug verzerrte Profile menschlicher Gesichter oder Körperformen zu erkennen. Unwillkürlich kommt der Impuls, die oft glatten Oberflächen zu berühren. Cragg selbst berührt seine Kunstwerke nach der Vollendung nur noch so wenig wie möglich. Und dass im Skulpturenpark in Wuppertal kleine Besucher manchmal sogar auf seine edlen Kunstwerke klettern, findet er auch nicht gut. 

Aber im Düsseldorfer Kunstpalast ist der ehemalige Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie über seinen Schatten gesprungen. 30 Skulpturen aus seinem Privatbesitz sind dort derzeit in der Ausstellung "Please touch!" aufgestellt und dürfen tatsächlich berührt und gestreichelt werden. Und dabei fallen zwei Dinge auf: Oft sind die Oberflächen bei Tony Cragg glatt, sehr glatt sogar. Und die Werke sind gar nicht immer abstrakt. Aus den Fingern einer Bronzehand wachsen etwa zahllose kleine Hände und verbinden sich zu einer korallenartigen Form. Neuere Skulpturen Craggs bestehen aus unzähligen Köpfen mit Nasen und Ohren oder bilden eine bronzene Welle aus Hunderten winzigen Menschen

Für Cragg ist jede Skulptur eine Art materielle Verlängerung des Menschen. Seiner Meinung nach hat die Kunstgeschichte die historische Zweiteilung zwischen figurativ und abstrakt ohnehin längst überwunden. "Im Grunde genommen ist die Bildhauerei weit daran vorbei", sagt er. So habe Marcel Duchamp schon 1917 ein Urinal als Kunstwerk ausgestellt, und auch ein Stuhl sei das Abbild eines Menschen. "Also alle Materialien sind die Verlängerung oder Erweiterung der eigenen Physis", sagt Cragg. "Ich verstehe alles als eine Verlängerung von mir selbst. Ich mache seit 50 Jahren Skulpturen. Das ist kein Konzept, das ist ein Leben."

Vom Chemielaboranten zum Künstler

Bevor Cragg Kunst studierte, machte er auf Wunsch seines Vaters, eines Flugzeugingenieurs, eine Lehre als Chemielaborant. Inspiriert war er immer auch von Chemie, Physik und Biologie. An Ingwer-Knollen, Schneckenhäuser oder manchmal auch ein Schnabeltier erinnern seine Bodenskulpturen. Schon als junger Mann experimentierte Cragg mit den Formen der Natur. Als Kind sammelte er in den Ferien auf dem Hof des Großvaters in Südengland Fossilien. Bis heute lebt er seine Sammelleidenschaft aus: "Von überall, wohin ich reise, komme ich meistens mit einem Stein oder zwei zurück."

Cragg war auf vielen bedeutenden Ausstellungen weltweit vertreten, mehrfach auf der Documenta in Kassel und auf der Biennale in Venedig. Sein Werk ist äußerst vielfältig: Früher fertigte er aus buntem Alltags-Plastikmüll wie Bechern, Tellern und Sandkastenspielzeug Boden- und Wandinstallationen an. Bretter, Pappe, Kisten vom Sperrmüll stapelte er ganz zu Anfang seiner Karriere 1975 zu einem meterhohen Würfel. 

Von 2009 bis 2013 war der vielfach ausgezeichnete Cragg Rektor der renommierten Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuvor bereits zweimal für mehrere Jahre als strenger Kunstprofessor gelehrt hatte. Im Orientierungskurs sagte er auch mal dem späteren Kunststar Andreas Gursky offen seine Meinung. Vergangenes Jahr übernahm Cragg für einige Monate übergangsweise noch einmal die Führung der Akademie, nachdem die Hochschule wegen Fehlern bei der Rektoren-Wahl zeitweise ohne Leitung war. Auch an der Berliner Universität der Künste (UdK)  hat Cragg fünf Jahre als Professor für Bildhauerei gelehrt.

Englishman mit deutschem Pass

Heute besitzt der Englishman in Wuppertal die deutsche Staatsbürgerschaft. Cragg nahm sie nach dem Brexit an, den er scharf kritisierte. "Das tut mir sehr leid für sie. Das ist eine Katastrophe", sagt er über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Cragg lebt das Gegenteil von Abschottung. Neulich habe er mal durchgezählt: Er habe bisher 88 Länder in seinem Leben besucht. "Ich bin immer für menschliche Versöhnung und Verständnis füreinander."

Was die 75 für ihn bedeutet? Er fange an, etwas mehr zu planen, etwas konstruktiver mit der Zeit umzugehen, sagt er. Künstlerisch ist sein Weg offen. "Heute kann ich wirklich überhaupt nicht sagen, wo meine Arbeit noch hingeht", sagt Cragg. Immer aber, wenn er seine bisherigen Arbeiten anschaue, frage er sich: "Wie kamst du dazu?"