1977 war das Jahr, in dem die pan-afrikanische Idee auch den westlichen Mainstream erreichte. Die Schwarze Popkultur begab sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und wollte sie in Afrika finden, dem Mutterland vor der gewaltsamen Verschleppung. Erst in den USA, dann auch in Europa brach die Fernsehserie "Roots" über die Geschichte der Sklaverei Rekorde. Die erste Folge endet mit den Worten eines angeketteten Sklaven, der zum andern sagt: "We will be one village", wir werden ein (gemeinsames) Dorf sein. Bob Marley nannte sein wichtigstes Album "Exodus". Und selbst der nie besonders radikale Songschreiber Lamont Dozier von Detroits Integrationsladen Motown hatte als Sänger einen Hit mit "Going back to my roots".
Alle Schwarzen dieser Welt sind eins: Das war popkultureller Konsens. Und kein Ereignis feierte den Pan-Afrikanismus ausladender als das Second World Black and African Festival of Arts and Culture, kurz Festac 77, in Lagos, Nigeria. Das erste Festival dieser Art fand 1966 im Senegal statt, eine eher streng intellektuelle Veranstaltung. Ganz anders Festac 77: Jetzt war mehr Spektakel. Etwa 16.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 56 afrikanischen Nationen und der Diaspora trafen zusammen, um das neue afrikanische Selbstbewusstsein zu feiern, darunter Stars wie Stevie Wonder, Gilberto Gil oder die Südafrikanerin Miriam Makeba.
In diesem Geiste reiste die 23-jährige Fotografin Marilyn Nance aus New York City mit einer US-amerikanischen Delegation zur Festac 77 nach Lagos. Erst sollte sie als Künstlerin eingeladen werden, dann fehlte das Geld, und Nance fiel von der Liste. Sie blieb hartnäckig, schrieb Briefe. Und fand eine Lösung: Sie und ihre Freundin fuhren als Technikerinnen mit. Fotografiert hat Nance dennoch. "Last Day in Lagos" zeigt nun 100 ihrer schwarzweißen Fotografien und ordnet sie ein mit einem Interview und drei Essays.
Feier des gemeinsames Abhängens, Redens, Tanzens
Vier Wochen lang dauert die Feier, es gibt Paraden. Konzerte und Kolloquien. Aber auch abseits der großen Bühnen ist viel los. Man sieht vielen Bildern von Marilyn Nance an, dass sie keinen offiziellen Auftrag haben. Die Autorin den Paraden und der zentralen Festivitäten aber auch oft ihren eigenen Interessen. Nance zeigt alltägliche Szenen rund um die Veranstaltungen – wie die Leute Schlange stehen, wie sie zu Fuß unterwegs sind, an brennenden Straßenrändern vorbei. Oft sind ihre aktivistischen Freundinnen und Freunde zu sehen. Festac 77 war auch eine Feier des gemeinsames Abhängens, Redens, Tanzens.
Ein Bild fängt die gelassene Stimmung besonders gut ein. Es zeigt Sun Ra, den afrofuturistischen Jazzmusiker, der an einem Nachmittag öffentlich probt, während von der Straße Leute locker im Türrahmen stehen und zuschauen. Nance zeigt auch die Stars der Zeit in gemeinschaftlichen Situationen, in denen sie nicht primär repräsentieren, etwa die Schriftstellerin Audrey Lorde und den Aktivisten Louis Farrakhan von der Nation of Islam.
Marilyn Nance schaffte mit den Bildern, was der Pan-Afrikanismus versprach: Egal ob sie Hipster aus New York City in den Fokus nimmt, nigerianische Arbeiterinnen und Besucher, sie haben einen ähnlichen Glanz im Gesicht, eine Coolness in der Haltung, einen ruhigen Stolz. Als würden sie sagen: Endlich, wir sind im post-kolonialen Zeitalter angekommen. Und wir sind alle black and beautiful.
Politischer Einfluss und neue Erkenntnisse
Festac 77 handelte aber nicht nur von Befreiung. Der Musiker Fela Kuti sollte erst das Programm mitbestimmen, beschwerte sich aber über Einflussnahme der Militärdiktatur und schied aus. In seinem eigenen Klub, dem "Afrika Shrine" veranstaltete er ein Gegenfestival und lästerte über die Regierung, die durch die gestiegenen Ölpreise reich wurde und für Festac mehr als 400 Millionen Dollar ausgab
"Last Day in Lagos" zeigt auch viele Bilder aus dem Shrine - von Kuti, von Gastmusikern wie Stevie Wonder. Kaum war Festac 77 vorbei, überfiel das Militär Kutis Klub, vergewaltigte, prügelte. Fela Kutis Mutter starb an den Folgen eines Sturzes. Und ein drittes panafrikanisches Festival sollte nie mehr statt finden. In einem Gespräch mit der Herausgeberin, der New Yorker Kuratorin Oluremi Onabanjo, sagt die Fotografin Marilyn Nance, sie habe erst in Nigeria gelernt, dass sie dort niemand als Afrikanerin wahrnimmt. In Lagos fühlte sich Nance erstmals als US-Amerikanerin.
Ein toller Text des nigerianischen Musikjournalisten Uchenna Ikonne erzählt Ähnliches über die Musik, nur andersrum. So wie die Fotografin Nance in Afrika ihre tatsächliche Heimat, die USA, spürte, so entdeckte Fela Kuti erst in Los Angeles, dass afrikanische Gewänder cool sind. Wurzeln sind komplex. Man sieht das nun auch in diesen Bildern, die viel zu lange in den Archiven lagen.