Es hätte ein netter Abend werden können. Sturmfreie Bude, Schülerinnen unter sich, bei zwei von ihnen wird’s unterm Wohnzimmerglastisch kuschelig. Doch als Maren (Theresa Park) am Finger der anderen lutscht, ist die Erotik schnell verflogen. Maren beißt zu, als ob sie nicht anders könnte. Und wieder müssen das Mädchen und ihr Daddy halsüberkopf ihr Haus verlassen.
Die Kannibalen in Luca Guadagninos Wettbewerbsfilm "Bones and All" sind Nomaden – dauernd auf der Flucht. Marens Vater, dem der Trieb seiner Tochter, Menschenfleisch zu essen, fremd ist, überlässt sie bald ihrem Schicksal. Ein Road Movie beginnt, in dem die junge Frau wider Willen Gleichgesinnte trifft. Anthropophagie ist hier eine Art Gendefekt. Menschenfleisch ist für die Betroffenen wie eine Droge (und kein Grundnahrungsmittel).
Die Frage, ob man für seine Sucht jemanden tötet oder das natürliche Ableben eines potentiellen Opfers abwartet, zieht sich durch den Film, der auch eine blutige Lovestory ist, zwischen Maren und dem Streuner Lee (Timothée Chalamet). Der Spruch "Ich hab dich zum Fressen gern" bekommt da eine verblüffende Triftigkeit. Und dann ist da noch der alternde Sully (Mark Rylance), ein Mitkannibale, der mit Anglerweste und Hut etwas an Joseph Beuys erinnert.
Vom Menschenfleisch zur Introspektion
Erst gibt sich Sully für Maren als Mentor in der Menschenfleisch-Angelegenheit, später wird er zur Bedrohung für das junge Paar. Virtuos verblendet Guadagnino ein Coming-of-Age-Drama, das in der Reagan-Ära im mittleren Westen der USA spielt, mit Elementen des Horror- und Sudelkinos. An den sozialen Fragen und dem inneren Konflikt der Heldin – Töten für die Sucht? – mogelt sich der italienische Regisseur, der es in Hollywood geschafft hat, eher vorbei. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass "Bones and All" am Lido einen großen Preis abräumt. Andererseits gewann Guillermo del Toro 2017 mit "The Shape of Water", der ebenfalls hochveredeltes Genrekino war.
Aus dem Ehedrama zwischen Lew Tolstoi und seiner 16 Jahre jüngeren Ehefrau Sofja könnte man wahrscheinlich ebenfalls einen Kassenknüller machen. Wer den Regisseur Frederick Wiseman kennt, weiß, dass "großes Kino" aber nicht seine Sache ist. Der US-Amerikaner dreht meist Dokumentarfilme, die sich bestimmten Orten und kulturellen Biotopen ausführlich widmen. Sein Film "Ex Libris – The New York Public Library" war trotz 197 Minuten Spielzeit einer der Venedig-Höhepunkte vor fünf Jahren.
"Un Couple" ist mit einer runden Filmstunde für Wisemans Verhältnisse nun eher kurz geraten. Und anders als sonst ist nur eine Person zu sehen: Natalia Boutefeu (die auch am Drehbuch mitschrieb) verkörpert Sofja. Aus den Tagebuchzeilen und Briefauszügen entsteht das Bild einer dysfunktionalen Beziehung, deren Konflikte alles andere als überkommen sind. Lew scheint zeitweilig nur die Schriftstellerei (und andere Frauen) im Sinn zu haben, Sofja hat kaum Entfaltungsmöglichkeiten, an ihr bleiben die Haushaltsführung und die Erziehung der Kinder hängen.
Beeindruckendes Kammerspiel
"Un Couple" siedelt ganz unhistorisch auf der französischen Atlantikinsel Belle-Île-en-Mer. Ein wunderschöner Garten und die Felsenküste der Insel rahmen Sofjas Monologe, die zunehmend verzweifelter werden. Ein beeindruckendes Kammerspiel vor malerischer Außenkulisse.
Um eine egozentrische Künstlernatur und ein Umfeld, das darunter zu leiden hat, kreist auch "Tár". Mit großer Ambivalenz spielt Cate Blanchett die (fiktive) Komponistin und Dirigentin Lydia Tár, die mit einem berühmten Berliner Orchester – es sollen die Philharmoniker sein – Mahlers 5. Symphonie probt. Bis heute sind Dirigentinnen selten.
An Társ fast übermenschlichen musikalischen Fähigkeiten ist scheinbar nicht zu rütteln. Ihr Aufstieg scheint unhaltbar, wenn es nicht Schattenseiten gäbe. Eine Dirigierschülerin von ihr, mit der Lydia eine Affäre hatte, deren E-Mails sie aber notorisch ignoriert hat, nimmt sich das Leben. Ein MeToo-Skandal scheint sich für die Dirigentin zusammenzubrauen, die sich schon einen neuen Liebling ausgeguckt hat, eine junge russische Cellistin.
Cate Blanchett ist eine Wucht
Noch hält Lydias Lebenspartnerin Sharon (Nina Hoss), bei der die gemeinsame Adoptivtochter aufwächst, zu ihrer Frau. Perfekt beherrscht der Klassikstar die Klaviatur der Macht, was das Abservieren unliebsamer Kolleginnen und Kollegen einschließt. Das stellt auch die Kleinfamilie mehr und mehr auf die Probe. Die Titelfigur wird immer unsympathischer, aber Regisseur Todd Field und Blanchett – die als Dirigentin absolut glaubwürdig wirkt – gelingt es, dass die Zuschauer Társ Umtrieben und Vertuschungsmanövern atemlos staunend bis zuletzt folgen.
Am Ende liegt ihre Karriere in Scherben. Am tragikomischen Höhepunkt des Films schlägt Lygia einen Dirigierkollegen, der die Untragbare in der Mahler-Aufführung ersetzt hat, mit Fausthieben vom Pult. Ein fesselnder Film, der einige identitätspolitische Fragestellungen unserer Zeit aufgreift. Und Cate Blanchett als Hauptdarstellerin ist einfach eine Wucht.