"Soko Chemnitz"-Aktion

"Denunziationen sind nicht Aufgabe der Bürgergesellschaft"

Das Künstlerkollektiv Zentrum für Politische Schönheit hat seinen umstrittenen Online-Pranger für Rechtsextremisten wieder abgeschaltet. Den Protestforscher Dieter Rucht überrascht das nicht. Ein Gespräch über die Bedeutung von Symbolen und die Frage, warum Satire als Waffe gefährlich ist

Herr Rucht, das Zentrum für Politische Schönheit hatte Fotos von vermeintlichen Rechtsextremisten ins Internet gestellt und Bürger dazu aufgerufen, diese bei ihren Arbeitgebern anzuschwärzen. Wie fanden Sie die Aktion?
Ich war gespalten. Auf der einen Seite kann ich verstehen, dass rechte Muster kopiert werden. Die Absicht war aber nicht, es genauso zu machen wie die Rechten, sondern denen einen Spiegel vorzuhalten. Das war eine satirische Aktion. Ich fürchte bloß, dass diese Satire nicht als solche erkannt wurde, sondern dass gesagt wurde: Die machen genau das Gleiche wie die Rechten – und beides ist zu verurteilen. 

Denunzianten haben die Aktivisten sogar eine Belohnung gezahlt. War das tatsächlich noch Satire – oder nicht schon Aufruf zur Selbstjustiz? 
Es war als Satire beabsichtigt, daran habe ich nach den bisherigen Aktionen dieser Gruppe keinen Zweifel. Es war aber ein Spiel mit dem Feuer: Man nutzte dieselben Methoden, die man eigentlich verdammt. Man hoffte, dass die Betrachter merken, dass man diese Methoden verdammt. Aber es blieb das Problem, dass es missverstanden wurde. 

Sie meinen Methoden, wie sie die AfD beim Online-Pranger für Lehrer anwendet?
Genau, ich vermute, dieser Pranger war der Impulsgeber für diese Kampagne. 

Die Aktivisten beklagten, dass die Justiz in Sachsen rechte Gewalt nicht konsequent genug verfolge. Wenn der Staat versage, müsse die Zivilgesellschaft ran. Rechtfertigte das die Aktion? 
Nein, man kann den Staat für Untätigkeit oder mangelndes Durchsetzungsvermögen zwar kritisieren. Man kann sich aber nicht selbst an die Stelle des Staates setzen. Denunziationen sind nicht Aufgabe der Bürgergesellschaft. 

So eine Aktion erfordert einen riesigen organisatorischen Aufwand. War das überhaupt noch politischer Protest, wie Sie ihn untersuchen? Oder sprengte das schon den Rahmen?    
Es ist die Spezialität solcher Gruppen, dass sie sich auf eine einzelne Maßnahme konzentrieren und dabei ein grundsätzliches Problem daran aufzeigen wollen. Das hat nichts mit dem üblichem politischen Protestgeschehen zu tun, bei dem es darum geht, möglichst viele Menschen auf die Straße zu bringen oder Unterschriften zu sammeln. Die Idee ist die einer subversiven oder satirischen Aktion. Diese richtet sich aber nur an den kleinen Kreis derer, die das entschlüsseln können. An der breiten Bevölkerung geht es vorbei. 

Haben die Aktivisten nicht sogar große Teile der Bevölkerung gegen sich aufgebracht ?
Vielleicht. Wobei ich nicht weiß, ob sich so viele Menschen dafür interessieren. Ein Großteil der Bevölkerung wird es entweder nicht zur Kenntnis genommen oder achselzuckend gesagt haben: "So, what?" Es war sicher eine Aktion, die linke Intellektuelle erfreut hat. Aber es blieb eine Selbstbestätigung des eigenen Lagers. Es war kein kommunikativer Brückenschlag. Der würde ja auch voraussetzen, dass man sich mit Argumenten in die Debatte einmischt. In diesem Fall war es eine Aktion, die provoziert, die verstanden oder missverstanden wird.

Wollen Sie damit sagen, Menschen aus der rechten Szene seien intellektuell nicht in der Lage gewesen, die Satire als solche zu durchschauen?
Es ist ein Kennzeichen der Rechten, dass sie wenig Sinn für Humor und noch weniger Sinne für Satire haben. Sie bevorzugen schlichte Botschaften. 

Jetzt haben die Aktivisten die Website abgeschaltet. Es heißt, die Seite sei eine Falle gewesen, in die man Rechte gelockt habe. Man habe ihre Daten abgeschöpft, als sie auf der Seite ihr eigenen Namen gesucht hätten. Überzeugt Sie die Erklärung?
Die Abschaltung durch die Künstlergruppe interpretiere ich als eine Fortsetzung ihrer subversiven Aktion. Dass man mit der Seite Gegner anlocken und ausspionieren wollte, diese Begründung kann so nicht stimmen und ist auch nicht ernst zu nehmen. Denn wer immer eine Namenssuche startet, ist nicht automatisch als Angehöriger der rechten Szene identifizierbar. Und schon gar nicht erkennbar, ob Nutzer der Website tatsächlich die Namen von Freunden oder Bekannten abgegeben haben. Die dazu veröffentlichte Zahl ist wohl frei erfunden. Der eigentliche Zweck der Aktion ist es vielmehr, den Blick auf die Problematik des persönlichen Datenschutzes und der elektronischen Überwachung zu lenken. 

Aber ob die Menschen das glauben oder nicht, ist eigentlich egal, oder? Hauptsache, sie sprechen darüber. 
Oder sie regen sich vielleicht sogar darüber auf. Genau darum geht es. 

Die Aktion "Soko Chemnitz" bezieht sich auf die Demonstrationen nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner im September. Die liefen aus dem Ruder, als Rechte aus der gesamten Bundesrepublik anreisten und in ihren Thor-Steinar-Pullovern demonstrativ Reichskriegsflaggen schwenkten oder den Hitlergruß  zeigten. Täuscht der Eindruck, oder sind Symbole als Zeichen von Protest wichtiger geworden?
Nein, die waren schon immer wichtig. Das gilt genauso für die Französische Revolution oder für die Straßenkämpfe in der Weimarer Republik wie für die Gegenwart. Natürlich werden diese Symbole manchmal variiert, oder es werden neue Symbole erfunden.  Aber generell ist es schon so, dass wir sehr stark auf Symbole reagieren. Das können sprachliche Verdichtungen sein im Sinne des so genannten Framings. Das können aber auch bildliche Symbole sein. 

Können Sie dafür Beispiele nennen?
Nehmen Sie die Formel "Abtreibung ist Holocaust". Das ist eine enorme Verkürzung einer moralisch schwierigen Frage. Die Formel beschwört Bilder von organisierter Massenvernichtung. Ebenso gibt es bildliche Symbole, die stark wirken. Zum Beispiel das ertrunkene Flüchtlingskind, das mit dem Gesicht im Sand lag. Es können aber auch Personen sein, die zu Symbolfiguren stilisiert werden. 

An wen denken Sie dabei?
Sahra Wagenknecht ist die Symbolfigur für einen Flügel der Linkspartei und für diese neu entstandene Sammlungsbewegung "Aufstehen!" Da werden viele Hoffnungen auf eine Person projeziert. 

Das neueste Symbol ist die gelbe Warnweste. Woher kommt die? 
Sie ist ein genialer Schachzug der Personen, die sie für Proteste nutzen. Und die Tatsache, dass das Symbol jetzt von Frankreich nach Deutschland importiert wurde, zeigt ja, wie gut es dort funktioniert hat. 

Warum?
Zum einen ist es so, dass jeder französische Autofahrer eine solche Weste besitzen muss. Das heißt, man muss nicht erst ein bestimmtes Symbol für die Protestaktion kaufen oder selbst fabrizieren. Man greift zu dem, was man schon hat. Zweitens ist die Weste optisch ein Knaller. Sie ist gut sichtbar. Und man hat sofort das Bild einer optischen Einheit, das die Protestierenden durch das Tragen der Weste erzeugen. Es kann sich somit blitzschnell ausbreiten. 

In Deutschland versuchen sowohl Sahra Wagenknecht als auch die AfD, die Gelbe-Westen-Bewegung für sich zu vereinnahmen. Was macht die Weste für sie attraktiv?
Es ist die Tatsache, dass aus dem Nichts so eine Art Volksbewegung entstanden ist, die sich äußerst regierungskritisch oder elitenkritisch gebärdet. Ausgehend von einem kleinen Problem, der Benzinpreiserhöhung, stellt diese Bewegung jetzt einen Container bereit, in dem alle möglichen Anliegen untergebracht werden. Thematisch ist das völlig offen. Es schließen sich zunehmend organisierte Gruppen wie die Gewerkschaften oder Schüler- und Studentenorganisationen an. 

In Frankreich vereint die Bewegung sowohl rechte als auch linke Gruppierungen?
Ja, aber diese werden nicht Seite an Seite gemeinsam Politik machen wollen. Das muss sich jetzt erstmal sortieren. 

In Deutschland haben rechte Initiativen  einen Aufruf zu einer Kundgebung gegen den UN-Migrationspakt auf einer Facebook-Seite mit dem Namen "Gelbe Westen – Deutschland macht dicht" gepostet. Auf der Seite heißt es, die Bewegung  sei weder rechts noch links. Ist das nicht Etikettenschwindel? 
Ja, man hängt sich an eine Bewegung, die im Ausland aus ganz anderen Gründen und unter anderen Bedingungen entstanden ist. Es wird versucht, das, was in Frankreich passiert, auf den deutschen Kontext zu übertragen. Die rechten Gruppen denken: Was die Franzosen können, das können wir auch. 

Dabei hat Deutschland ganz andere Probleme als Frankreich. Hier regt man sich eher über Dieselfahrverbote als über Benzinpreiserhöhungen auf. 
Deswegen funktioniert das ja auch hier nicht. Auch deshalb nicht, weil die Symbolik der Westen hier nicht verankert ist und weil die strukturellen Bedingungen für diesen Protest in Deutschland so nicht vorhanden sind. 

Was meinen Sie damit? 
Im Gegensatz zu Frankreich haben wir kein zentralistisches System, in dem alle Kritik einer Person zugeschoben werden kann. Der französische Präsident hat viel mehr Gewicht als die Bundeskanzlerin. Der deutsche Förderalismus ist ein System mit vielen Verantwortlichkeiten. Wir haben eine gute wirtschaftliche Lage ...  

... und keinen Sozialabbau. 
Richtig, wir haben auch sehr viel mehr intermediäre Instanzen wie Verbände oder Bürgerinitiativen, die einen Willenbildungsprozess von unten nach oben ermöglichen. Der ist natürlich immer noch schwächer als der von oben nach unten. Aber in Frankreich ist es extrem. Da wird fast alles von der Spitze aus diktiert – natürlich unter den Bedingungen eines demokratischen Parlamentarismus. Aber die Leute haben das Gefühl: Wir werden nicht gehört. 

Auch hierzulande ist die Kritik auf die Bundeskanzlerin fokussiert. Sie ist zur Hassfigur für Rechte geworden. Ist die Situation in Frankreich insofern nicht doch vergleichbar?
Ja, aber es funktioniert in Deutschland trotzdem nicht so gut wie in Frankreich. Angela Merkel ist seit 13 Jahren Bundeskanzlerin. Sie war nicht von Anfang an eine Hassfigur für die Rechte. Das ist eine Entwicklung der vergangenen drei Jahre. Emmanuel Macron hat einen Absturz innerhalb weniger Monate erlebt. Das hat verschiedene Ursachen. Es liegt unter anderem auch daran, dass er außenpolitisch sehr präsent ist. Nach innen verfolgt er aber einen restriktiven Kurs. Das hat die Leute ernüchtert. Sie haben das Gefühl: Er regiert in einem einsamen Schlossturm. Er kennt die Probleme seiner Landsleute nicht. 

Jetzt hat er auf die Proteste aber doch reagiert und die geplante Erhöhung der Benzinsteuer um ein halbes Jahr verschoben. Ist es hierzulande auch denkbar, dass eine Bewegung auf der Straße die  Bundesregierung derart unter Druck setzt? 
Bewegungen können durch das beharrliche Bohren dicker Bretter Druck entfalten. Beispiele dafür gibt es genug. Denken Sie nur an die gesetzliche Regelung der Abtreibung, die reformiert wurde. Aber eine Entwicklung wie in Frankreich ist hier sehr unwahrscheinlich. 

Warum? Wenn sich rechte Gruppierungen wie Pegida, AfD oder Identitäre im Kampf gegen den UN-Migrationspakt zusammenschließen, können sie gemeinsam doch viele Anhänger mobilisieren. 
Rein rechnerisch gesehen sind die Rechten in Deutschland seit zwei Jahrzehnten zwar auf dem Vormarsch. Sie treten auch zunehmend selbstbewusster auf. Sie präsentieren sich, als wären sie das Sprachrohr des Volkes schlechthin. Aber zusammen machen sie vielleicht nur ein Fünftel der Bevölkerung aus. Hinzu kommt, dass die Rechte – wie auch die Linke – notorisch gespalten ist. Zum Beispiel in der Integrationspolitik. Die einen sagen, jeder Ausländer sei ein Ausländer zu viel. Die anderen sagen, wir müssen schon genauer sortieren. Abgesehen von Inhalten: Platzhirsche tragen ihre Revierkämpfe aus. 

Aber hatte das Zentrum für Politische Schönheit vor diesem Hintergrund nicht den Finger genau in die Wunde des Systems gelegt?
Doch, natürlich. Die Aktivisten führen uns die Mechanismen der Rechten vor Augen. Dass man politische Gegner denunziert oder ihre Adressen ins Internet stellt – mit der implizierten Aufforderung: Leute, zeigt denen, wo es lang geht! Zahlt es denen heim! Aber es war eine heikle Gratwanderung, weil diese subversive Botschaft von der breiten Bevölkerung nicht goutiert wurde.