Hélio Oiticica in Berlin

Der Suprasinnliche

„Es gibt keinen besseren Ort als die Straße, um Menschen sexuell zu initiieren. Die Straße war für mich auch etwas, das all den abstrakten Dingen entgegengesetzt war“, erklärt der Titelheld des Dokumentarfilms "Hélio Oiticica", den sein Neffe jetzt auf der Berlinale vorgestellt hat. Während der brasilianische Künstler das sagt, sieht man ihn durch das nächtliche Rio schlendern, mit Frauen und Transvestiten flirten, einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn.

Die Abstraktion mit den Sinnen genießen, wie ein Glas Rum-Cola, einen schönen Körper oder die grüne Wildnis, die sich um Rio de Janeiro erstreckt – das war das Anliegen Hélio Oiticicas (1937-1980), eines der bedeutendsten Künstler seines Landes im 20. Jahrhundert. Und diese Sinnlichkeit wollte er nicht einfach abbilden, sondern teilen. Er baute farbige Holzkonstruktionen, die Boliden, die man nach und nach auseinandernehmen musste, um ihre Farbreize zu erkunden, ja ganze Farblabyrinthe („Penetráveis“) sowie im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 1970 kleine „Nester“ aus Stoff, in die man sich – wozu auch immer – diskret zurückziehen konnte. Seine Palette war warm, voller intensiver, aber nicht greller Rot- und Gelbtöne, was in keinem anderen Medium so gut zur Geltung kommt wie auf dem 8- und 16mm-Farbfilm, mit dem Oiticica sein Leben und seine Arbeit für die Nachwelt festhielt.

Aus diesem reichhaltigen Archivmaterial sowie Tonbandaufnahmen und Filmzitaten hat der  Neffe des Künstlers, César Oiticica Filho, ein träumerisches Porträt über seinen früh verstorbenen Onkel zusammengestellt. Für diesen „flammenden Film“ (so die Jury) bekam er den Caligari-Filmpreis sowie den Preis des internationalen Filmkritikerverbandes FIPRESCI verliehen. Und weil das Berlinale-Forum, insbesondere mit seiner Reihe Forum Expanded, eine Brücke bildet zwischen dem Film als Kunst und der Kunst als Film, zeigt man in Kooperation mit der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof noch bis zum 24. Februar die Multimediainstallation „CC6 Coke Head‘s Soup“, die Oiticica 1973 gemeinsam mit dem Filmemacher Thomas Valentin schuf.

Im Aktionsraum hinter dem Museumscafé tut sich dort eine geräumige Matratzengruft auf, an deren Wände Aufnahmen eines Plattencovers projiziert werden. Der Titel ist zugleich eine Anspielung auf den coke head, die Koksnase wie auf die gezeigte Platte der Rolling Stones, Goats Head Soup, die im selben Jahr erschien. Oiticica bestreute das Cover mit Kokainspuren, deren sukzessives Verschwinden und stetiges Erneuern er in Fotosequenzen festhielt. Oiticica, das zeigt der Film nur zu deutlich, war ein großer Schwadroneur, jemand, der seine Vorstellungen von  Kunst und Leben in endlosen Dialogen und Monologen entwickelte. Das Kokain half ihm dabei.

In Europa wurde Oiticica nie so richtig bekannt, was sich spätestens mit seiner geplanten Retrospektive im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) in diesem Herbst ändern könnte. In Brasilien ist der Mann hochberühmt, vor allem auch, weil sich die Tropicália-Bewegung um die Musiker Caetano Veloso und Gilberto Gil nach eine seiner Installationen von 1967/68 benannte: eine Fusion afrikanischer und brasilianischer Musik mit Elementen des Rock‘n‘Roll und des Pop, die dem Machismo und der Humorlosigkeit der Militärdiktatur eine androgyne, karnevaleske Utopie entgegenhielt.

Auch im Berliner Kunstgewerbemuseum waren während der Berlinale Filme Oiticias zu sehen. Der vergnüglichste Teil der Oiticica-Offensive aber fand nachts in einem mit Salzwasser gefüllten Pool statt, in dem man, auf dem Rücken treibend, Musik von John Cage hören konnte. Was das mit Kunst zu tun hat? Auf den ersten Blick wenig. Doch unter der futuristischen Kuppel der Therme Liquidrom Avantgardemusik hören und anschließend einen Drink an der Bar nehmen, während Berlinalebesucher in Badekleidung an einem vorbeiflanieren – näher kann man den Idealen des brasilianischen Meisters im eisigen Berliner Februar wohl nicht kommen.

Die Installation „CC6 Coke‘s Head Soup“ ist noch bis zum 24. Februar im Aktionsraum des Hamburger Bahnhofs zu sehen. Stills aus Oiticicas Filmen stellt der Dickinson Kunsthandel (Kurfürstendamm 50) bis Juni aus (nach Vereinbarung: 030-88912825)