Live und heimatlos

Gegen Erhabenheit und Geniekult arbeitet diese Kunst. Schon vor 20 Jahren schrieb der in New York lebende Künstler eine Anleitung, wie man sich einen „Stingel“ selbst basteln kann. Nun erscheint er in echt in der Neuen Nationalgalerie: „Rudolf Stingel Live“ – seine bislang größte Einzelpräsentation in Deutschland. Er ist nicht sonderlich bekannt hierzulande, trotz einer gefeierten Werkschau im Whitney Museum 2007, trotz absurder Auktionsrekorde (fast zwei Millionen Dollar für ein Styroporobjekt) und einer Ausstellung vor sechs Jahren im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die ebenfalls der aktuelle Nationalgalerie-Chef Udo Kittelmann verantwortete.

Stingel hat in Berlin das Erdgeschoss des Mies-van-der-Rohe- Baus mit einem Teppich auslegen lassen, auf den überdimensionale indische Ornamente gedruckt wurden. An der Decke hängt ein Kronleuchter aus der Wohnung des Künstlers. Diese Konfrontation mit der modernistischen Strenge der Institution wirkt etwas abgedroschen, lässt sich jedoch auch als ein melancholisches Nachdenken über Heimatlosigkeit auffassen. Im Untergeschoss zeigt der gebürtige Südtiroler großformatige Gebirgsansichten in Grisaille, drei Vorlagen für die fotorealistischen Gemälde stammen vom Vater; der hatte die Fotos nach der Rückkehr aus dem Krieg gemacht, vielleicht, weil er sich ihrer ewigen Schönheit vergewissern wollte. Der Sohn reproduzierte auch die Kratzer, die jetzt die Würde der dargestellten Bergwelt kontrastieren.

Wie nebenbei streift der 54-Jährige damit auch Fragen nach Authentizität und Aura von Malerei und Fotografie. Doch dabei bleibt er nicht stehen. Vorlage für das vierte Bild war eine Aufnahme des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, der sich nach dem Ersten Weltkrieg auf die Stafelalp bei Davos zurückzog und ganz in der Nähe 1938 Selbstmord beging. Auf Stingels Darstellung sind auch die Fingerabdrücke zu erkennen, die er auf dem Negativ hinterließ, in Öl und vergrößert muten sie gespenstisch an. Das Unheimliche von Heimat und Heimatlosigkeit – wo könnte man es besser vor Augen führen als in einem Haus, das der Idee von Nation und ihrer Repräsentation gilt.

Neue Nationalgalerie Berlin, bis 24. Mai