Zum Tod von Enzo Mari

Ein Designer mit universellem Gerüst

Es gibt kaum etwas, was er nicht entworfen hat: Der italienische Künstler und Designer Enzo Mari war ein Erforscher der Form und Vorreiter der Do-It-Yourself-Bewegung. Nun ist er im Alter von 88 Jahren nach einer Corona-Infektion gestorben

Enzo Mari, 1932 im norditalienischen Novara geboren, studierte mit mittelmäßiger Begeisterung: "Ich war ständig in Versuchung zu wechseln. Ich stellte zu viele Fragen", sagte er über die Zeit von 1952 bis 1956, als er Literatur und Kunst an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand belegte. Offensichtlich fand er nicht das, was er als Grundlage für sein Schaffen suchte.

So widmete sich Mari während dieser Zeit verstärkt eigenen Studien. Maris Aufmerksamkeit galt zunächst der Erforschung der Psychologie der Idee und der visuellen Wahrnehmung. Ähnlich einem Sprachwissenschaftler – er untersuchte und sezierte die Sprache der visuellen Künste – widmete er sich ab Mitte der 50er-Jahren zunehmend dem Design. In den 60er- und 70er-Jahren weitete er seine Forschungen auf Ideenentwicklungen neuer Planungsstrukturen aus, beschäftigte sich mit der Methodologie des Designs, mit der Rolle von Objektdesign im Alltag und der Funktion des Designers für unsere Welt - sozialtheoretische Aspekte gewannen zunehmend Bedeutung für sein Werk. 1963-66 lehrte Enzo Mari an der Scuola Umanitaria in Mailand.

Maris Werk lässt sich in Werkphasen beschreiben – Phasen in denen er sich fokussiert Teilaspekten der gestaltenden Welt widmet. Diese Werkphasen bauen zunächst aufeinander auf, bedingen, überlagern sich und weben Querverbindungen. Diese strukturelle Anordnung liest sich als Maris eigenes universitäres Gerüst, ähnlich einer Grundlehre.

Er startete mit Studien und Wahrnehmungsmodellen zur Erforschung von Struktur, Farbe und Perspektive – die ersten Arbeiten waren stark von der Metaphysischen Malerei Giorgio de Chiricos beeinflusst –, dann widmete er sich in den ausgehenden 50er- und 60er-Jahren Logiken unterschiedlichster Materialien, um Merkmale maximaler Effizienz zu finden. In "Serie della natura" (1963-76), einer Reihe monochromer, scherenschnittartiger Grafiken von Früchten und Tieren und dem "Calendario" von 1962, manifestierte sich das Interesse an der einfach(st)en Form.

Einen Raum mit Fliesen erzählen

Von dort näherte sich Enzo Mari der Erforschung der komplexen Form an, mit Hilfe literarischer, metaphorischer Annäherungsperspektiven. Signifikant ausgewiesen wird diese Phase durch "Serie elementare – sistema di 27 piastrelle maiolicate" von 1968 für Gabbianelli – einer Serie von 27 Fliesen mit unterschiedlich dichten Linien- und Punktstrukturen, mit denen sich perspektivische Räume bauen und erzählen lassen. Eine zweite Ebene innerhalb der Erforschung der komplexen Form bilden Untersuchungen zu Fügungen, Kopplungen und Gelenken. Symptomatisch für diese Werkphase ist das Systemregal Glifo (1966-67), ein Regal aus weißen Kunststoffplatten mit den Maßen 35 mal 35 Zentimeter, die über eine ausgearbeitete, intelligente Zahnleiste ohne weitere Hilfsmittel zusammengesteckt werden.

Mit dem 1977 entworfenen Projekt "44 valutazioni" wird Maris Interesse an der Erforschung der integralen Form sichtbar – das Teil wird als Teil eines Ganzen gesehen. 44 amorphe, hölzerne Formteile stehen jeweils in ihrer freien – künstlerisch anmutenden – Schönheit für sich. Zusammengelegt können elf allgemein lesbare Symbole erzeugt werden – etwa das Symbol des Kommunismus (dessen Idealen sich Mari übrigens verpflichtet fühlte): Hammer und Sichel.

Die sichtbarsten und radikalsten Aktivitäten in Maris Schaffen entstanden in den 70er-Jahren, in denen er die Möglichkeiten des Gestaltens als erzieherische – wenn man so will weltverbessernde – Komponente für unsere Umgebung thematisierte. In "Proposta per un’autoprogettazione" (1974) entwickelte er eine Serie von 19 einfachsten Möbeln zum Selberbauen. Über einen rückfrankierten Briefumschlag erhielt man über Maris Büro kostenlos eine einseitige Bauanleitung – bestehend aus einer Materialliste und Zeichnungen. Einfache Holzbretter ließen sich mit einem Hammer und ein paar Nägeln schnell zusammenbauen. Damit gab Mari den wesentlichen Impuls für eine Do-It-Yourself-Bewegung im Design, die heute mehr denn je floriert. Zum anderen hinterfragte und kritisierte er mit diesem Vorschlag gängige Konsum-, Produktions- und Distributionsmechanismen der Designwelt.

Einzigartige Vielfalt und Neugier

Sein Werk umfasst über 2000 Projekte und spannt sich über alle Genres des künstlerischen, grafischen, räumlichen und objektbezogenen Gestaltens. Neben Produkten und Serienprodukten für namhafte Designhersteller entwickelte Enzo Mari Kunstausstellungen, Markenarchitekturen, Markenräume, Kinderbücher, prototypenhafte Maschinen zur Reflexion und Erprobung von Wahrnehmungsgewohnheiten, Poster, Grafiken, comichafte Dialoge als Miniaturtheater, Busse als Bibliotheken.

Kurzum: Es gibt kaum etwas, was Mari nicht entworfen hat. Sein Werk ist von einer beispiellosen Vielfalt und sprühenden Neugierde rund um das Thema des universellen Gestaltens geprägt und ist in engem Kontext der Mailänder Architektur-, Design- und Kunstszene zu sehen: Achille Castiglioni, Marco Zanuso, Vico Magistretti, Bruno Munari, Ettore Sottsass Jr. und den Künstlerkollektiven Gruppo T, Gruppo N und Movimento per l’arte concreta (MAC).

Seine Arbeiten wurden zwar unter anderem auf den Biennalen von Venedig in den Jahren 1967, 1979 und 1986 und der Documenta 4 in Kassel 1968 präsentiert und unter anderem mit vier Compassi d’Oro der Triennale von Mailand ausgezeichnet. Alles in Allem hat Maris Werk jedoch nicht den Platz in der Designgeschichte, den es auf Grund seiner Qualität, seiner Innovation und seiner Radikalität haben müsste.

Dies resultiert möglicherweise aus der Perspektive, dass Maris Werk durch seinen Facettenreichtum schwer einzuordnen ist, seine Projekte im Vergleich zu seinen Mailänder Kollegen sperriger erscheinen und er einmal eingeschlagene, erfolgreiche Wege gern wieder zu verlassen schien. Mari war einer, der den Dingen auf den Grund ging, ein unbequemer Geist, der ständig neue Herausforderungen suchte, der Prototyp eines forschenden Praktikers, er war genialer Nonkonformist.

Die Kunstwelt verliert gleich zwei geniale Köpfe

2016 hatte Mari angekündigt, sein Gesamtwerk der Stadt Mailand zu vermachen. Unter einer Bedingung: Es darf für 40 Jahre nicht der Öffentlichkeit gezeigt werden. Ein Statement, wie wir es von Mari, dem kantigen Maestro, nicht anders gewohnt waren.

Zwei Tage vor seinem Tod – er erlag den Folgen einer Corona-Infektion – eröffnete noch eine Retrospektive zu seinem Werk, kuratiert von Hans Ulrich Obrist und Francesca Giacomelli. Die Ausstellung auf der Mailänder Triennale, noch zu sehen bis 18. April 2021, wird nun zum Vermächtnis seiner lebenslangen Suche nach einer besseren Welt, im politischen, sozialen wie gestalterischen Sinne.

Und nur einen Tag nach Maris Tod vermeldeten die italienischen Zeitungen, dass auch seine Frau, die renommierte Kunstkritikerin und Autorin Lea Vergine, im Alter von 82 Jahren gestorben ist. Sie zählte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der italienischen Kunstkritik. Bekannt war sie vor allem durch ihre Essays über Body-Art und Performance, zusammengefasst in "Il corpo come linguaggio" ("The Body as Language").

Die Design- und Kunstwelt verliert mit Vergine und Mari zwei geniale, kritische Denker – ihre Ideen bleiben! Wir dürfen uns schon jetzt auf den Zugang zum Mailänder Archiv freuen. In 40 Jahren ist es soweit!

Andreas Glücker ist Architekt und forscht an der Hochschule für bildende Künste Hamburg über Enzo Mari.