Whitney Museum, New York

Wo der Wahnsinn lauert

In New York ebbt die Hitze ab, nur nicht im Whitney Museum: Die Ausstellung „Heat Waves in a Swamp“ („Hitzewellen im Sumpf“) zeigt Werke von Charles Burchfield (1893-1967) – ein visionärer, eigenwilliger Landschaftsmaler, der sich nicht um Traditionen scherte und dem es trotzdem über einen Zeitraum von knapp 40 Jahren gelang, sich und seine sechsköpfige Familie allein durch seine Kunst zu ernähren. Den Schritt in die Selbstständigkeit wagte er im Depressionsjahr 1929, als er seinen Job als Tapetendesigner aufgab – das sollte heute Mut machen. Es spricht auch für seine damalige Popularität.

Dass Burchfield, dem das Museum of Modern Art (MoMA) 1930 seine erste Soloausstellung widmete, heute relativ unbekannt ist, liegt zum einen an seinem sensiblen Medium: Seine Aquarelle werden selten gezeigt, jahrelang lagern sie in absoluter Dunkelheit. Außerdem gilt Burchfield in erster Linie als Vertreter der American-Scene-Bewegung: In den 30ern wollte man in den USA Industrielandschaften und Kleinstadtansichten sehen, und er hat sie realistisch eingefangen – allerdings ohne die Intensität und die menschlichen Abgründe seines Freundes Edward Hopper. Burchfields Abgründe lagen woanders.

Die Retrospektive, kuratiert von dem Bildhauer Robert Gober und zuvor im Hammer Museum in Los Angeles gezeigt, will Burchfields Schaffen neu bewerten und den Menschen hinter den Werken sichtbar werden lassen. Das gelingt: Mit mehr als 100 Aquarellen, wenigen Ölgemälden und exzessivem biografischen Material spannt sie den Bogen von 1916, dem Jahr als er das Studium an der Cleveland Art School in Ohio abschloss, bis zu seinem Tod im Jahr 1967 – und befreit Burchfield vom Stigma, ausschließlich provinzielle Nabelschau betrieben zu haben.

Hysterie, Wahnsinn, Melancholie

Die Werke aus der MoMA-Ausstellung von 1930 sind, soweit das möglich war, hier erneut vereint: Flirrende Augustnachmittage, Unheil verkündende Wolken, bösartige Ostwinde, gespensterhafte Bäume, surreale Sumpflandschaften und scheinbar friedliche Sommerhäuser, umklammert von Büschen, aus denen Grillen schreiend zu zirpen scheinen: Die Formen sind mal scherenschnittartig scharf, dann wieder wabern und zerfließen sie, als gehörten sie in Alices Wunderland oder Gaudís Parque Güell.

Diese Arbeiten – entstanden schon um 1917 – stecken voll abstrakter Symbole, die Burchfield kurz zuvor entwickelt hatte, und die sich durch sein gesamtes Werk ziehen: Sie repräsentieren Furcht, Hysterie, Wahnsinn, Melancholie, Angst vor der Einsamkeit – Emotionen, die Burchfield mit der Natur verband, die er trotz ihrer einschüchternden Kraft zutiefst liebte. Seine späten großen Aquarelle sind Delirien, in denen er der Natur kathedralartige Altäre baut. Aber die dunklen Gruben und Schatten, in denen das Fremde lauert, sind allgegenwärtig, und die Tagebucheinträge, die viele der Exponate begleiten, sprechen von seiner qualvollen Erkenntnis, dass er sich nie mit der Natur wird vereinen können.

Eine weltumspannende Sehnsucht

Charles Burchfield war ein Mann extremer Gegensätze, das macht die Ausstellung unaufdringlich aber eingehend deutlich: Hin und her gerissen zwischen Phasen depressiver Stagnation und obsessiver Produktivität, war er ein besessener Chronist seines künstlerischen Prozesses – er hat mehr als 10.000 Tagebuchseiten hinterlassen – und malte doch fast nur mit flüchtigen Wasserfarben. In Schaffenskrisen fand er Inspiration in seinen programmatischen Schriften aus den Anfangsjahren seiner Kunst und veränderte seine Bilder, indem er die Blätter mit neuem Papier erweiterte und so über die Ränder hinaus malte. Ein selbstgenügsamer Mann, so scheint es, verhaftet in den Betrachtungen seines Gartens in Buffalo, New York, aber mit weltumspannender Sehnsucht.
Die ekstatische Religiosität einiger seiner großen Naturhymnen wirkt manchmal naiv, und die Farben sind teilweise erschreckend blass. Das ändert aber nichts an dem Gesamteindruck: Dass man hier einen  faszinierenden, vielschichtigen Maler neu kennenlernt, der diese großartige Retrospektive verdient hat.

Noch bis zum 17.10.2010