Choreografin

Sasha Waltz: Müssen das Fehlerhafte in uns akzeptieren

Das Handy liegt auf dem Tisch, das Essen wird fotografiert und aus dem Urlaub gibt es Selfies. Aus Sicht von Sasha Waltz arbeiten viele Leute an der perfekten Fassade - und bauen sich damit ein Gefängnis

Choreografin Sasha Waltz (55) beobachtet eine fragwürdige Sehnsucht nach Perfektion in der heutigen Gesellschaft. "Es wird alles immer perfekter, immer schöner. Das wird auch propagiert in den sozialen Medien", sagte Waltz der Deutschen Presse-Agentur. Das Leben werde retuschiert, in sozialen Medien neu geordnet, damit es glücklich, erfolgreich, ereignisreich erscheine.

Waltz gehört zu den einflussreichsten Choreografinnen für den zeitgenössischen Tanz. Sie wird neben ihrer eigenen Compagnie künftig mit Johannes Öhman das Berliner Staatsballett leiten. Von sozialen Medien hält sie sich fern. "Ich versuche, das Handy nur als Telefon und Informationsträger zu nutzen."

Sie beobachte bei vielen Leuten, dass das Handy wie eine Droge funktioniere. Aus ihrer Sicht gibt es eine Art Betäubung durch die vielen Reize und Einflüsse des heutigen Lebens. "Wir sind fast gar nicht mehr still. Es gibt überall Geräusche oder Bilderflimmern, Videos, Leinwände", sagte Waltz, die am Donnerstag in der Berliner Volksbühne ihr neues Tanzstück "rauschen" zeigt.

Auf der Bühne will sie viel mit Weiß, Licht und Geräuschen arbeiten. Dazu gehören Töne einer alten Textilmaschine. Den Drang zur Perfektion gebe es nicht nur im Netz. "Es gibt auch einen übersteigerten Wahnsinn des Produzierens, des Materialismus", sagte die Regisseurin. Auch das dürfte sie abstrakt im Tanz thematisieren.

"Strebt der Mensch immer mehr danach, so perfekt zu sein wie eine Maschine? Muss er immer mehr leisten? Das ist für mich eine Korsage", sagte Waltz. "Das ist mehr als das: ein Gefängnis, in das wir uns freiwillig begeben. Man muss da ausbrechen." Man müsse an sich auch das Fehlerhafte und das Sterbliche akzeptieren.

Auch sie sei getrieben und habe einen eigenen Produktionswahn, sei im Alter aber etwas offener und lasse lockerer, sagte Waltz. Dass sie einen Führungsposten beim Staatsballett übernimmt, hatte anfangs für Proteste gesorgt. Tänzer zweifelten an ihrer Eignung, als Vertreterin des modernen Tanztheaters eine klassische Ballettcompagnie zu leiten.

Für sie sei es am Anfang schwierig gewesen, weil kein Vertrauen aufgebaut werden konnte, weil sie sich nicht mit den Tänzern hätten treffen können. "Wir konnten gar nicht erzählen, was wir machen wollen. Dass wir nichts zerstören, sondern nur einen anderen Weg gehen wollen", sagte Waltz. "Aber nicht, indem wir etwas abschaffen, sondern indem wir etwas anderes hinzufügen."

Mit ihrer eigenen Compagnie "Sasha Waltz & Guests" ist sie nun an der Volksbühne zu Gast. Auch das Traditionstheater im Berliner Osten befindet sich gerade im Wandel. Viele Jahre leitete Frank Castorf das Haus, dann übernahm der belgische Museumsmacher Chris Dercon. Nach Protesten aus der Kunstszene gab er den Posten vor rund einem Jahr auf. Derzeit läuft die Suche nach einer Nachfolge.