Ausstellung "Re:Orient"

Die deutsche Fremdheitsproduktion

Wenn die "Anderen" zurückschauen: Das Leipziger Völkerkundemuseum zeigt, wie Muslime in Deutschland zu Fremden gemacht werden. Die Ausstellung ist manchmal plakativ, aber ungemein wichtig 

Wer in einem Völkerkunde-Museum eine Ausstellung sehen will, die den Blick auch mal umdreht, wo die Verfremdeten zurückschauen auf die Fremdheits-Produzenten, Sammler und Deuter, der kann noch bis Mitte Januar 2020 nach Leipzig fahren. Das Grassi Museum für Völkerkunde feiert gerade sein 150-jähriges Bestehen und hat sich mit der neuen Direktorin Leontine Meijer-van Mensch vorgenommen, neue Weg zu gehen, im Sinne eines Dialogs über die im Kontext von Kolonialgeschichte, Rassismus, Raub und Imaginationsarbeit entstandenen Sammlungen.

Das soll in Zukunft dann auch alles schön wissenschaftlich bleiben, aber wenn man den Dialog wirklich führen will, wird man auch andere Menschen als nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anhören müssen. Zum Beispiel Leute wie die zwei Gastkuratoren Anna Sabel und Ozcan Karadeniz, die vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften kommen und unter dem Begriff "Re:Orient" Positionen zur "Erfindung des muslimischen Anderen" versammeln. Die beiden sind keine artpeople und haben entsprechend auch keine Scheu, symbolische, illustrative Arbeiten bei jungen muslimischen Künstlerinnen und Künstlern und Aktivisten anzufragen, in Auftrag zu geben oder als Statement gar selbst zu produzieren.

Der Orient, jenes ahistorische Reich voller Zauber und Imagination

Sesam, öffne dich - beziehungsweise iftah ya simsim: Bevor der Gang durch die Ausstellung beginnt, demonstrieren die gastgebenden Leontine Meijer-van Mensch und ihr Kurator Kevin Breß in einem Vorraum, wie die klassisch-völkerkundliche Vitrinen-Schau üblicherweise funktionierte: In effektvollem Licht, auf Samt gebettet, wird hinter Glas kostbarer Plunder ausgestellt, der im 18./19. Jahrhundert gehandelt und an völkerkundliche Sammlungen wiederverkauft wurde: Krummsäbel, Kaffeegefäße, Wasserpfeifen, Öllampen, Schnabelschuhe, Koranständer.

Und schon ist der Orient, jenes ahistorische Reich voller Zauber und Imagination, wabernd beschworen. Es fehlt nur noch der Forschungsaufsatz eines älteren weißen Herrn und ein schönes Bauchtanzschmuck-Projekt mit teilnehmender Exkursion in ein warmes Land. Immerhin informiert ein kleines Schild, dass einige Objekte von einem unbekannten Sammler 1873 auf der Weltausstellung in Wien gekauft wurden. Wann und durch wen sie ans Grassi Museum gelangten, also die Transparentmachung des Kunsthandelkomplexes, wäre natürlich auch interessant zu erfahren, aber das kommt sicher noch bei einer anderen Gelegenheit.

Der Tanz der Derwische als Berghain-Fantasie

Eine mannshohe weiße Skulptur namens "May", die das Wort "Karl" darstellt, empfängt die Besucher im entzaubernden Reich des "Re:Orient", eine Arbeit des Künstlers Siddq (2019). Die Buchstaben sind tapeziert mit jenen Textstellen aus Karl Mays Werken, die von den Orientalen handeln und deren seltsame Sitten und Gebräuche thematisieren: "Der Orientale misst die Schönheit seines Weibes nach dem Lehrsatze: Radius mal Radius mal Pi, multipliziert mit dem Quadrat des ganzen Durchmessers, gibt in Millimetern ausgedrückt die Kubikwurzel des Schönheitsgrades."

Und wenn Karl May über den Tanz der Derwische schreibt, liest sich das heute als würde er eine Nacht im Berghain Berlin beschreiben. Die Kuratoren setzen den Beginn der deutschen Konstruktion des "muslimischen Anderen" also bei Karl Mays Phantastereien an, wenn auch vorherige Ereignisse wie die türkische Belagerung vor Wien und darauf folgende Phänomene wie Goethes west- östlicher Diwan, Türkenopern, orientalische Märchen und die farbenfrohen Türkenmoden auf Tafeln erwähnt werden.

Es war kein sukzessiver, kontinuierlicher Prozess, der den muslimisch Anderen konstruierte, wie eine weitere Tafel erwähnt, da die Gastarbeiter der Nachkriegszeit zunächst nicht als Religionsgemeinschaft angesehen wurden. Erst "im vereinten Deutschland waren die Musliminnen und Muslime die neuen Anderen" steht auf einer Tafel. Das mag etwas versimpelt wirken, und es fehlt auch ein wirklicher Beleg dafür, beziehungsweise eine historische Einordnung der Beziehungen zu der Türkei in der Zeit zwischen Faschismus und Wiedervereinigung. Als Erklärungsversuch einer von veränderten Stimmungen und auch gewalttätigen Anfeindungen betroffenen Gruppe ist der Satz berechtigt.

Warnung vor den koffeinsüchtigen Muselmannen

Der sich Siddq nennende Künstler will aus Sicherheitsgründen anonym zu bleiben. Nicht wegen seiner Karl-May-Arbeit, aber seine Installation zum Wahlkampfplakat der Berliner AfD – die das Gemälde "Der Sklavenmarkt" des französischen Malers Gérome aufgriff und damit das üble Ressentiment vom arabischen Frauenhändler wieder in Umlauf brachte – zeigt verschiedene Perspektiven darauf, indem er das Bild unterschiedlich rahmt und dekonstruiert. "Die Barbarei anderer Männer fantasierend, ermöglicht es dem europäischen Kunstliebhaber zugleich den Blick auf einen nackten, verfügbaren Frauenkörper" lautet sein Kommentar.

Etwas penetrant fällt das Video mit einem lauten, frechen Kind aus, das den Caffee-Kanon brüllt, und seinen berüchtigten Text wie einen Exorzismus aufsagt: "C-A-F-F-E-E, trink nicht so viel Kaffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!" Again and again verfolgt einen das Lied bis in die nächsten Räume. Es stammt von dem sächsischen Komponisten Carl Gottlieb Hering, der zu Mitte des 19.Jahrhunderts die deutsche Musikdidaktik begründete und auch so lustige Weisen wie "Hoppe, hoppe Reiter" und "Morgen Kinder, wird´s was geben" schrieb, die sich sicher weniger traumatisch in die Seelen migrantischer Kinder eingebrannt haben als diese merkwürdige Warnung vor den koffeinsüchtigen Muselmannen.

Dass das Lied den "Muselmann" instrumentalisierte, um der protestantischen Genuss-Hemmung und Lustfeindlichkeit Vorschub zu leisten, lernt man erst später im Leben, denn beim deutschen Liedgut gibt es meist keinen Beipackzettel, nicht mal hier in dieser Schau lässt sich mehr darüber erfahren. 

"Wie kann man das aufbrechen?"

Die meisten Arbeiten illustrieren Zustände und Gefühle oder besitzen einen berichtenden Charakter. In der zeitgenössischen Kunst findet man so eine Gestik selten. Aber Sabel und Karadeniz geht es gar nicht um Kunst und künstlerischen Wettbewerb, sondern um eine Verbildlichung und Darstellung von Alltagsrassismen, politischen Bedrohungslagen und sehr speziellen Erfahrungen. Es ist eine richtige und notwendige Entscheidung, Gastkuratoren wie sie in das Völkerkundemuseum zu holen, sie machen zu lassen, ihnen einen Vertrauensvorschuss zu geben.

Sie verfügen über Expertise und Haltung. Es lohnt sich auch, etwas mehr Zeit für das einstündige Video von Ruben Sabel mitzubringen. Der Sohn des Kuratoren-Paares wuchs in einer intellektuellen, interkulturellen und interreligiösen Familie in Leipzig auf. Als er zum Studium nach Göttingen zog, bemerkte er plötzlich, dass er ohne den heimischen Kontext plötzlich wie ein dummer, asylsuchender, analphabetischer Trottel behandelt wurde. In seinem Film geht er vielen schmerzhaften Fragen nach, so nach seinem Verhältnis zu weißen Frauen, zu seiner Solidarität gegenüber anderen rassifizierten Männern, mit denen er sich bisher kaum identifizierte.

Ruben will vor allem wissen: "Wie kann man das aufbrechen?" Er interviewt Männer, die sehr artikuliert und präzise über ihre Erfahrungen im System der deutschen Fremdheits-Produktion berichten. Wer sind diese interessanten Menschen, will man wissen, so wunderbare Leute, gib mir doch mal Namen, aber Ruben Sabel hat seinen Film noch nicht richtig fertig. Der Film verdient eine Postproduktion damit er einem größeren Publikum, beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, vorgestellt werden kann. Der Museumswächter war auch ganz im Bann, ein gutes Zeichen.

Distinktionen der Privilegierten

Kennen Sie eigentlich Miomis? Das sind "Menschen ohne Migrationshintergrund", schreibt die deutsche Künstlerin und Schriftstellerin Noah Sow, deren Worte eine große Tafel zieren. "Erkennbar daran, dass sie selbst mit verfilzten Haaren und in Batik-Klamotten noch frech zu einem Polizisten werden können". Natürlich ohne ernsthafte Folgen fürchten zu müssen.

Das sind Distinktionen der Privilegierten. "Bild' dir deinen Moslem" heißt eine Installation, die auffordert, dem Wandbild eines Mannes, der nur Unterhose trägt, magnetische Kleidungsstücke und Accessoires anzuziehen. Trägt er Anzug- oder Schlabberhosen, nimmt er das Baby im Tragetuch, die Frisur mit Bart? Das Spiel fühlt sich schal und unlustig an, es wird schon komplizierter sein, sich seinen Muslim "zu bilden".

Vor allem was die männlichen Künstler und deren Statements angeht, hängt auch viel Traurigkeit in den Räumen. Die türkischen Künstlerinnen dagegen zelebrieren einen lustigen Provo-Charme in ihrem Fotos und Filmen. Die junge Rapperin Ebrow alisa Ebru Düzgen singt in dem Video "K4L – Kanak für Life" über den Zusammenhalt in ihrer Familie und von notwendiger Abgrenzungen –  "Tut mir leid, wir sind keine friends".  

Perücke über dem Kopftuch

Die Fotoarbeit "Hire me" der Berlinerin Isra Abdou zeigt eine junge Frau im Businessanzug und mit keckem Blick. Es könnte ein normales, selbstbewusstes Bewerbungsfoto sein, hätte sie sich über ihr Kopftuch keine rotblonde Perücke gezogen. Die Frage, die von diesem Foto ausgeht, lautet: Will die Gesellschaft es sich weiterhin leisten, gut ausgebildete muslimische Frauen draußen zu halten, auch diejenigen mit Kopftuch? Wie sieht es mit der Integration in den qualifizierten Arbeitsmarkt aus, abseits von Gastronomie, Einzelhandel und Onkelwirtschaft?

Woran aber liegt es, dass die männlichen Positionen es deutlich schwerer haben mit der Charme-Nummer, dass sie trauriger aber auch anklagender, verletzter wirken? Einen Hinweis gibt eine Arbeit, die das Cover des Focus-Magazins nach der Kölner-Silvesternacht 2015 zeigt, das in deutscher Focus-Tradition natürlich mit einer nackten blonden Maid versehen war, die Maid sich diesmal aber mit ihren Armen die Scham bedeckte.

Daneben hängt das Foto eines nackten dunkelhaarigen Mannes, der ebenfalls seine Scham bedeckt. Die Verunsicherung ist in der Welt, und der muslimische Mann läuft Gefahr, in seiner Menschlichkeit missverstanden und hässlich verzerrt zu werden. Auch diese bildliche Gegenüberstellung ist sicher keine Kunst, aber es ist ungeheuer wichtig, dass ein Völkerkundemuseum – zumal ein ostdeutsches – diesen Raum für Statements von Seiten der aktiven Communities gibt. Das ist jetzt wichtiger, als alte Öllampen zu beschwören.