"Enola Holmes" und "Das Damengambit"

Ein Wunderkind kommt selten zu zweit

Im Corona-Herbst, in dem Kontaktarmut oberstes Gebot ist, tröstet Netflix uns mit zwei einsamen Heldinnen. "Enola Holmes" und "Das Damengambit" führen Strategien im Umgang mit unfreiwilligem Alleinsein vor 

"Treffen Sie niemanden!" So knapp und gnadenlos wie der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz bei der Verkündung neuer harter Lockdown-Maßnahmen Mitte November hatte bislang kaum ein Politiker den Imperativ des Infektionsschutzes auf den Punkt gebracht. Corona brachte mit seinen Kontaktbeschränkungen für viele Menschen eine ganz neue Intensität des Alleinseins mit sich. Experten warnen vor einer neben der Pandemie herlaufenden "Epidemie der Einsamkeit". "Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben" – Rilkes abgenudeltes Gedicht "Herbsttag" von den fallenden Blättern und leeren Alleen ergab in keinem Herbst mehr Sinn als in diesem.

Zeitgleich zum Start der zweiten Infektionswelle in Deutschland veröffentlichte Netflix zwei Produktionen, in denen Einsamkeit und der Kampf dagegen das zentrale Hintergrundthema sind: "Enola Holmes" und "Das Damengambit". In dem Spielfilm über die kleine Schwester von Sherlock Holmes und der Serie über ein fiktives Schach-Wunderkind ähnelt sich die jeweilige Ausgangslage: Die Protagonistinnen werden verlassen von ihren Müttern. Die Mütter meinen, ihre Töchter gut auf das Alleinsein vorbereitet zu haben. Ihre Lehre: In einer Welt, die von Männern beherrscht wird, ist für Frauen Einzelkämpferinnentum ein Schlüssel zur Selbstverwirklichung.

So wird dem späteren Schachgenie Beth Harmon von ihrer Mutter eingeschärft: "Männer werden dir Dinge beibringen wollen. Das macht sie aber nicht schlauer. Meistens nicht, aber dadurch fühlen sie sich größer. Sie zeigen dir, wie alles geht. Lass sie reden, und dann machst du weiter das, was du gut findest. Eine alleinstehende Frau muss stark sein in einer Welt, in der man sich mit allem zufrieden gibt, nur um irgendwas zu haben."

Dieser Katechismus könnte auch direkt von Enola Holmes' Mutter stammen, die ihre Tochter (gespielt von Millie Bobby Brown) mit wenig Kontakt zur viktorianischen Gegenwart aufzieht, ihr im Homeschooling unter anderem John Stuart Mills feministischen Grundlagentext "Die Hörigkeit der Frau" zu lesen gibt, ihr Judo, Spurenlesen und intellektuelles Rebellentum beibringt. Allein der Name! Enola rückwärts gelesen ergibt "alone" – ein Idealzustand laut Mrs Holmes.

Einsamkeit und Begabung bedingen sich

[Achtung, Spoiler!]

Nach diesen Lektionen dürfen die beiden begabten Mädchen dann zusehen, wie sie klarkommen: Mrs Holmes geht einfach von einem Tag auf dem anderen in den feministisch-revolutionären Untergrund, Beth Harmons Mutter bringt sich um. Hier enden die zufälligen Parallelen zwischen "Elona Holmes" und "Das Damengambit" zunächst, und die beiden Heldinnen gehen ihre ganz eigenen Wege.

Die 16-jährige Enola macht sich auf nach London, um ihre Mutter zu suchen, trifft dabei einen anderen entlaufenen Teenager, verbündet sich zunächst mit diesem Marquess, um dann – ganz der Einzelkämpferin-Strategie ihre Mutter folgend – allein weiterzuziehen; obwohl sie sieht, wie unbeholfen er im Gegensatz zu ihr ist. Die kleine Beth Harmon hingegen kommt ins Waisenhaus, lernt dort Psychopharmaka und Freundschaft kennen, lässt sich vom Hausmeister Schach beibringen und kommt im Teenager-Alter zu einer Adoptivmutter. Sie nimmt ihren Weg auf: von einem Schachturnier-Sieg zum nächsten ...

Beth und Enola sind hochbegabt – und einsam. Einsamkeit und Talent bedingen sich, denn um das ganze Spektrum der eigenen Fähigkeiten zu entdecken, brauchen beide Mädchen den Mut, sich zu separieren und Außenseiterinnen zu sein. Anderseits erzeugen Genies wie sie auch Unterlegenheitsgefühle bei anderen, weshalb sie wiederum gemieden werden. "Elona Holmes" und "Das Damengambit" erzählen dann auch davon, wie die beiden Protagonistinnen sich Freundschaft und Liebe zurückerobern – ohne auf ihre Fähigkeiten zu verzichten.

Enola sucht ihre Mutter und findet sich selbst

Die Rückeroberung des Sozialen beginnt für Enola mit dem Sprechen zur vierten Wand (also zu uns vor dem Bildschirm) und nimmt ihren Verlauf mit der Suche nach ihrer Mutter, auf der Sherlock Holmes' Schwester ihrem berühmten Bruder alle Ehre macht. Erst im Zuge ihrer Ermittlungen entdeckt sie all ihre Begabungen und wird sie selbst, indem sie ihre Talente verwirklicht. 

Dabei steht Solidarität scheinbar im Wege, weshalb sie den Marquess zunächst allein lässt. Doch am Ende setzt sie auf Kooperation. "Sie ist sich bewusst, dass sie einer bedürftigen Person nicht nicht helfen kann", schreibt Michael Wood in der "London Review of Books", "und das hat nicht mit Mitleid oder Wohltätigkeit zu tun, sondern mit ihrem Bedürfnis, ihre eigenen Talente und Fähigkeiten einzusetzen. Enola ist keine Philosophin, und vielleicht können weder Brown noch ihre Figur ihre eigenen Gesichter und Gedanken vollständig lesen. Aber sie führen sehr eindrucksvoll eine Vorstellung vom Ich vor, die mit der Einbeziehung der anderen beginnt und nicht mit deren vorsorglichem Ausschluss."

Im "Damengambit" warnt der Hausmeister im Waisenhaus die kleine Beth, die weniger als Enola auf ganz handfeste Fähigkeiten zurückgreifen kann, sondern sich dank ihres Genies und ihrer psychedelischen Ausflüge in für Mitmenschen unerreichbare Sphären aufhält, dass das Alleinsein die andere Seite der Wunderkind-Medaille ist. Die erwachsene Beth ist dann erlöst, als sie diese Lehre ablegt. Sie findet nach einigen Abstürzen das Glück in Freundschaft und Kooperation, vor allem auch mit männlichen, unterlegenen Gegnern. 

Zerlegung männlicher Eremiten

"Enola Holmes" und "Das Damengambit" fügen sich damit in eine Reihe jüngerer Filme und Serien ein, die Gegenbilder zur heroischen Einsamkeit männlicher Figuren entwerfen. Am radikalsten hat das in letzter Zeit die Serie "Dickinson" von Apple TV+ geschafft, die ein Treffen der unfreiwillig einsamen Dichterin Emily Dickinson mit dem freiwillig einsamen Dichter Henry David Thoreau imaginiert, bei dem der König der Eremiten, der mit seinem Buch "Walden" immer wieder neue Generationen von Einsamkeitsheroen inspirierte, ganz schön dumm dasteht in seiner überheblichen Ablehnung von Gesellschaft. 

Auch Sherlock Holmes war bis zur gleichnamigen BBC-Serie, die vor zehn Jahren startete und in der der Detektiv eher wie ein Start-up-Unternehmer durchs neoliberale London hetzt, vor allem ein kauziger, ausgezehrter, immer wieder dem Opium verfallender zurückgezogener Mann, der zwar nicht auf Freundschaft, aber doch auf Liebe verzichtete. In "Enola Holmes" ist Sherlock eigentlich als sympathischer Schönling angelegt, bekommt von einer Nebenfigur aber einen mächtigen Seitenhieb in seiner Weltabgeschiedenheit ab: Die schwarze Ladeninhaberin und Kampfsportlerin Edith widerspricht dem Meisterdetektiv, der behauptet, er interessiere sich nicht für Politik, weil die langweilig sei. Stimmt nicht, sagt Edith, ihn kümmere Politik nicht, weil er nie erfahren habe, wie es ist, als wohlhabender weißer Mann machtlos zu sein. Er würde sich nicht die Mühe machen, eine Welt zu reformieren, die zu seinem Vorteil aufgebaut ist.

Einsamkeit, das wissen die jungen TV-Heldinnen von heute, kann Fluch und Privileg sein. Und das ist schließlich auch eine Lektion, die uns die Corona-Pandemie jeden Tag aufs Neue vorführt.