Künstlerin Esther Ferrer

"Wenn du es nicht hast, erfinde es!"

In Deutschland bekam das Werk der spanischen Performancekünstlerin Esther Ferrer bisher nur wenig Raum. Dies ändert eine Einzelausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim

Esther Ferrers Kunst nimmt die Dinge gern beim Wort. Die Redewendung "im Rahmen der Kunst" überraschte die Spanierin, weil sie sich an die hübschen Rahmen erinnert fühlte, die um die prächtigen Werke im Museum ihrer Heimatstadt prangten und die sie in ihrer Kindheit bewundert hatte. Frei nach ihrem selbst aufgestellten Credo "Wenn du es nicht hast, erfinde es!", baute Ferrer den sprichwörtlichen Rahmen der Kunst nach – und lud andere ein, darin zu sein, wie es sonst nur die Bilder und die Redewendung konnten. 1999 wurde "En el marco del arte" auf der Biennale von Venedig präsentiert, wie man jetzt in Rüsselsheim noch einmal nachsehen kann.

Die Opelvillen zeigen Esther Ferrer (geboren 1937) bis Januar 2023, eine spanische Performancekünstlerin erster Stunde, die früh mit John Cage und Fluxus in Berührung kam und viele Jahrzehnte mit der Künstlergruppe ZAJ zusammenarbeitete. Ferrer wächst in Nordspanien nahe der französischen Grenze auf, über die sie der Franco-Diktatur entfliehen kann. Seit den 1970er-Jahren lebt die Künstlerin dauerhaft in Paris.

Zur Eröffnung ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland führte die 85-Jährige ein Stück auf, das der Ausstellung gleichzeitig ihren Namen leiht: "Ich werde von meinem Leben erzählen". Da klingt es schon wieder an, das Vorhaben, verewigt in einem Satz, als ob das geplante Erzählen immer in der Zukunft liegen müsste und nie je realisiert werden könnte.

Skript oder Partitur einer Performance

Wird es strenggenommen auch nicht: Denn die Künstlerin verliert hier tatsächlich kein einziges Wort über ihr Leben, stattdessen lässt sie andere von jeweils ihrem eigenen berichten. Ferrers Stück ist also Skript oder Partitur einer Performance, für die in diesem Fall Opelvillen-Direktorin Beate Kemfert Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach einigen vorgegebenen Kriterien finden musste, die allerdings nicht offengelegt wurden. Erst einen Tag vor Aufführung haben sich alle zusammengefunden, um zu proben.

Auftritt einer jungen Frau, die nur verstehen kann, wer Gebärdensprache versteht, und rasch darauf eines jungen Mannes aus Ohio, dessen Eltern aus Sierra Leone in die USA eingewandert sind und der nun vorübergehend in Frankfurt Station macht. Zuhören ist jeweils nur eine knappe Minute möglich, wenn man überhaupt der jeweiligen Sprache mächtig ist, dann füllt sich die Sitzreihe im vorgegebenen Takt: Wir sehen Gebärdensprache und hören Spanisch, Koreanisch, Englisch, Marokkanisch und wieder Spanisch, Deutsch und Russisch; nur Türkisch, das man in der Rüsselsheimer Fußgängerzone allerorten liest und hört, scheint heute nicht vertreten zu sein. Eine Kunststudentin ist dabei und eine Mutter mit Kind, eine ältere Frau und ein Mann mittleren Alters.

Das verbale Verstehen gibt man schnell auf, irgendwann stellt sich eine Art Rhythmus ein, der durch die Sprachmelodie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer getaktet wird. Das Baby schreit ins babylonische Sprachengewirr. Die Performer verlassen den Raum in der Reihenfolge, in der sie gekommen sind: Zum Schluss kann man jenen, die zuvor kaum durch den Geräuschteppich dringen konnten, noch eine Weile länger zuhören.

Ideen als Miniatur

Dass diese Retrospektive gar nicht unbedingt als solche daherkommt, hat vielleicht auch damit zu tun, dass Ferrer selbst die Zeitlichkeit immer schon in ihr Werk mit einbaut. In der Fotoreihe "Autorretrato en el tiempo", dem Selbstporträt in der Zeit, dokumentierte die Künstlerin ihr eigenes Altern (ihre optische Veränderung?) seit 1981 als Verlauf mittels Gegenüberstellung und chronologischen Entwicklungen. Daneben das Selbstporträt im Raum: Ein fotografischer Zeitstrahl aus jeweils demselben Motiv, das dutzendfach auf Fotopapier ausbelichtet wird, aber nur zu einem einzigen Zeitpunkt vollständig und klar sichtbar aufblitzt. Links und rechts davon verschwindet das Porträt der Künstlerin zunehmend, bis nurmehr weißes Papier übrig bleibt.

Die Künstlerin ist sich selbst und ihrem Publikum zwar oft genug Arbeitsmaterial und Anschauungsobjekt, zum Beispiel, wenn sie sich in einem feministischen Seitenhieb auf den Kult um den weiblichen Körper selbst vermisst. Aber mindestens ebenso gern setzt Ferrer Ab- und Umleitungen, die geradewegs von ihrer eigenen Person fortführen. Dem Fetisch der Künstler-Persona kann sie offenbar wenig abgewinnen. Wirklich lustig sind die Selbstporträts aus den frühen Zeiten digitaler Bildmanipulation, auf denen das Gesicht der Künstlerin über die gesamte Bildfläche mäandert und ganz klein vor Kopf inmitten eines mehrfach geschichteten Antlitzberges aufploppt.

Die Zeitlichkeit könnte Esther Ferrers Kunst übrigens noch einmal in die Hände spielen. Die Opelvillen haben diverse Modelle versammelt, in denen Ferrer Ideen als Miniatur formuliert: Eine Vorarbeit zum begehbaren Rahmen der Kunst, der in Venedig präsentiert wurde, ist dabei. Oder Mutterland, "Made Patria", geplant 1994 anlässlich der 500-Jahr-Feier der "Entdeckung" Amerikas durch Christoph Kolumbus.

Die Schönheit der Theorie

"Mit dem Spanien der damaligen Epoche vor Augen wählte ich als Thema das Ausgeschlossenwerden der Anderen aufgrund ihrer Andersartigkeit," erklärt Ferrer selbst im zugehörigen Werkstext: "Sinti und Roma, Juden, Araber und Indigene der ‘Neuen Welt‘." Die Installation aus einer Spinne mit einem echten Sarg als Korpus, aus dessen Bauch Tonaufnahmen von Texten zum Thema erklingen, plus einer spanischen Flagge in der Saalecke wurde seinerzeit aufgrund fehlender Mittel gar nicht realisiert – später aber "kurioserweise gleich dreimal".

Ein Werk, das noch auf Umsetzung wartet, ist Ferrers "Oui, je veux être immortel": Durch eine Passage rotierender, nasser Bürsten gelangt man Autowaschanlagen-ähnlich in den Innenraum, dessen Wände mit Argumenten für die eigene Unsterblichkeit beschrieben werden können. Denn warum, so die Künstlerin, sollten nur berühmte Menschen erinnert werden?

Hinaus geht es durch ein weiteres Paar Bürsten, diesmal zum Trocknen. Bevorzugt aufzustellen wäre die Kontraption an einem öffentlichen Platz, wie Esther Ferrer schreibt. Die dauerhaft angelegte Instandhaltung dieses Ortes gehört zum künstlerischen Konzept wie auch zur dann nötigen Budgetierung dazu. Sollten irgendwann einmal die Mittel aufgebracht werden, könnte es losgehen. Wobei Ferrers vorerst nur theoretischen Vorhaben natürlich eine ganz eigene Schönheit innewohnt.