Stille Wohnräume

Innenleben

Wie gut man die Augangsbeschränkungen verkraftet, liegt maßgeblich an der Beschaffenheit der eigenen vier Wände. Frühe Gedanken zur Ambivalenz des Zu-Hause-Bleibens finden sich bei Malern um 1900

Manchmal ist man gern allein, liebt Entscheidungsfreiheit und Ruhe, zieht Alleinunterhaltung dem Gruppenzwang zum Spaß vor. Breitet sich das Alleinsein aber aus, zu einem ungewollten und unausweichlichen Dauerzustand, wird es zur bedrückenden Einsamkeit. Wird das daheim Bleiben befohlen, können die Wände immer näher kommen. Wie eine Raubkatze im zu kleinen Käfig, tigert man von Bett zu Tisch, ein Vormittag im Büro wird für manche zum erträumten Ausbruch aus der erzwungenen Häuslichkeit.

Nicht nur wir erleben in der Corona-Pandemie und den Zeiten von Home-Office gerade das Umschlagen vom Vertrauten zum Unbehagen im eigenen Heim. Das Zuhause als Schutzraum bekam schon Ende des 19. Jahrhunderts einen unheimlichen Unterton. In den damals enstandenen Interieurgemälden von etwa Edvard Munch, Vilhelm Hammershøi und Léon Spilliaert, treten in die Innenräume des alltäglichen Lebens verstärkt Angst und Beklemmung. Zimmer mit unendlichen Tiefen, gedämpfte Blautöne, bis zum letzten Zentimeter vollgestellte Räume oder verlassen wirkende Leere dominieren die Werke.

Abgrenzung von der Außenwelt geht fließend über in das Gefühl, gefangen gehalten zu sein. Geschlossene Türen versperren den Weg, halb geöffnete führen ins Nichts oder in endlose Flure. Es scheint kein Entkommen zu geben, aus den einengenden Wänden und Winkeln, sie sind mächtiger als der Mensch zwischen ihnen. Unheimlich un-heimelig im Freud'schen Sinne, die Ahnung, im Haus lauere Gefährliches, dominiert die Interieurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Rätselhafte Abgeschiedenheit von der Welt

Ein Meister der stillen Wohnräume ist Vilhelm Hammershøi (1864 - 1916). Seine in gedeckten Tönen gemalten Interieurs zeigen eine rätselhafte Abgeschiedenheit von der Welt. Licht strahlt durchs Fenster, die Tür daneben ist zu. Wenn es eine Gestalt in ein Werk geschafft hat, meist Hammershøis Frau, scheint die passiv im Gemälde festgehalten, schweigend, der Blick kreuzt den des Betrachters nicht. Oft ist nur ihre Rückansicht zu sehen, während sie aus dem Fenster starrt.

Sie wirkt fast wie ein weiteres Möbelstück, ein zum Raum gehörendes Requisit, verschmolzen mit der Architektur, regungslos und leicht betrübt. Eine feine Melancholie schimmert so durch Hammershøis Gemälde, die Innenräume werden trotz einzelner Einrichtungsstücke von Leere beherrscht. Die Motive changieren zwischen häuslichem Idyll und klaustrophobem Szenario, mit Wunsch nach Ausbruch aus der Finsternis, durch die verschlossene Tür, ins hellere Außen, das aber unerreichbar ist.

Türen, die zu weiteren Räumen führen, Türen aus Glas, dahinter ein Balkon, wenn nicht gar ein Garten, sind jetzt während der Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Pandemie ein hohes Gut. Wer nur durch die Wohnungstür geht und dann im einzigen Zimmer steht oder mit vielen Personen auf engem Raum wohnt, der wird das Gefühl des Käfigbewohners wohl als erster verspüren.

Jeder Perspektivwechsel wird genutzt

Wenn der Alltag nur noch an einem begrenzten Ort stattfinden kann, wünscht man sich diesen so komfortabel und weitläufig wie möglich.Jeder Perspektivenwechsel wird genutzt, und sei es nur ein Blick aus dem Küchenfenster in den trostlosen Hinterhof. Und, wer einmal das Gegenteil erlebt hat, weiß: Nichts ist wichtiger, als sich im gewählten Zuhause auch so zu fühlen, zu Hause.

Rückzug im eigenen Zimmer, wenn das heute nicht gegeben ist, muss die Toleranzgrenze besonders hoch liegen. Ohne räumlichen Ausweg steigt das Konfliktrisiko. Die, die zu Hause nicht sicher sind, werden noch gefährdeter. Auch der UN-Generalsekretär António Guterres hat besorgt von international steigender häuslicher Gewalt gesprochen, besonders gegen Frauen und Kinder.

Auf Instagram posten Menschen Bilder von sich mit Aktenkoffer, Lederschuhen und Trenchcoat, wie sie, sich an der Stange des Duschvorhangs festhaltend, auf dem Weg zur Arbeit ins Büro, vermutlich dem Küchentisch, sind. Konfrontiert mit dem Konzentratiosnlevel des Tages lässt es sich aber auch hier besser arbeiten, wenn man nicht gegen eine bespritzte Wand, sondern im besten Falle durch eine tiefe Fensterfront schaut.

Zu Hause bleiben auf 4000 Quadratmetern ist einfach

Wer keine finanziellen Schwierigkeiten hat, wird Geld niemals als ein Problem verstehen, das es zu bedenken gilt. Und wer 42 Zimmer verteilt auf 4000 Quadratmetern besitzt, der regt gern dazu an, zu Hause zu bleiben, um Leben zu retten. Denn, wo liegt das Problem? Stars scheinen mental ebenso wenig wie Influencer auf einen Notstand und ein jetzt angemessenes Verhalten ihrerseits vorbereitet zu sein; eine Pandemie lässt sich aber auch schwer mit einem ansprechenden Instagram-Feed vereinbaren.

Am Sonntag postete der Fehltritt jagende Instagram-Account @diet_prada zwei jüngst erschienene Artikel aus "The New York Times" und "Vanity Fair", in denen der Umgang von öffentlichen Persönlichkeiten mit ihrer Verantwortung während Corona-Zeiten angeklagt wird. Die Schauspielerin Gal Gadot verkündete "Zu Hause bleiben ist meine Superkraft" aus ihrem begehbaren Kleiderschrank. Jennifer Lopez weist darauf hin, dass sie Quarantäne am Pool in Miami macht, ihrem Pool, und immer wieder ruft die Elite zum Spenden auf. Selten wurde so sichtbar, was die "den Fans so nahen" Berühmten immer wieder abstreiten: Die Distanz zwischen ihnen und denen, die zu ihnen aufschauen, war auf allen Ebenen nie größer. Und das Zuhause spielt eine wichtige Rolle bei dieser Kluft.