Philosophin Susan Neiman

"Das Kulturleben nimmt Schaden"

Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, über den Documenta-Streit, eine mögliche Verschärfung der BDS-Resolution und die Gefahr, dass sich Deutschland kulturell isoliert


Susan Neiman, viele jüdische Intellektuelle in Deutschland haben das Schweigen der Kulturwelt auf die Hamas-Attacken vom 7. Oktober beklagt, Meron Mendel spricht von einer "Zäsur". Stimmen Sie dem zu?

Nein. Manchmal empfinde ich das, was wir in diesem Land derzeit erleben, als eine Art verordneten Philosemitismus. Die Reaktionen sind sehr reflexhaft geworden – sogar meine Bank hat mir nach dem 7. Oktober vier Mal, wenn ich Geld abhob, ihre Solidarität erklärt. Das ist ein Automatismus, der weder zur Sicherheit der Juden in Deutschland noch in Israel beiträgt. Ich fürchte mich eher vor einem backlash, weil ich aus weißen bio-deutschen Gemeinschaften alte antijüdische Klischees höre: Vielleicht gibt es doch eine jüdische Weltherrschaft. Warum sonst würde sich die Bundesregierung so einseitig auf die Seite von Israel stellen, gegen ihre Werte und ihre eigenen Interessen? Was die Stimmen von Meron Mendel und anderen betrifft, möchte ich sagen: Ja, es gibt diese Ängste. Aber es gibt auch eine Menge anderer jüdischer Stimmen in Deutschland, die diese Ängste nicht teilen – nur wurden wir seltener gefragt. 

Ähnlich hat sich zuletzt auch Deborah Feldman geäußert, die Deutschlands bedingungslose Solidarität mit der israelischen Regierung kritisiert und sagt, dass unbequeme Stimmen wie ihre kein Gehör finden.

Ich finde Feldmans Aussagen zum Thema richtig. Und dazu möchte ich auch aus biografischer Perspektive etwas hinzufügen. Deborah Feldman wird vorgeworfen, dass sie als amerikanische Jüdin die Ängste der deutschen Juden nicht verstehe. Mir wurde dieser Vorwurf auch immer wieder gemacht – teilweise von Menschen, die noch nicht mal geboren waren, als ich 1982 nach Deutschland kam. Aber wichtiger noch: Es kommen nicht alle amerikanischen Juden aus einem intellektuellen, kosmopolitischen Milieu in New York. Ich stamme aus dem tiefsten Süden, aus Georgia. Auf unsere Synagoge wurde ein Bombenanschlag verübt, als ich Kleinkind war. Juden wurden vom Ku-Klux-Klan gelyncht. Ich bin mit Antisemitismus groß geworden. Die Idee, dass man nur in Deutschland Antisemitismus erfahren und sich deshalb dazu äußern kann, lehne ich ab.

Die Behauptung, es gäbe einen "strukturellen Antisemitismus" der Kulturwelt und der deutschen Kulturinstitutionen, halten Sie für abwegig?

Absolut. Und ich möchte daran erinnern, dass Deutschland aus energiepolitischen Gründen sehr enge Verbindungen zu Katar und Iran pflegt. Warum wird darüber nicht gesprochen? Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet gegen die Kultur geschossen wird.

Auch die Documenta erschüttern neue Antisemitismus-Vorwürfe. Nachdem zunächst der Kurator Ranjit Hoskoté die Findungskommission für die Documenta 16 verließ, ist mittlerweile die gesamte Kommission zurückgetreten. In einem Brief begründen die Kuratoren ihren Rücktritt mit dem derzeitigen intellektuellen Klima in Deutschland. Es gebe derzeit in Deutschland "keinen Raum für einen offenen Austausch von Ideen".

Für differenzierte Meinungen gibt es derzeit wenig Raum in Deutschland. Israel selbst und die USA sind da anders; die Medien äußern sich sehr differenziert. Zur Documenta Fifteen möchte ich sagen: Es gab dort mindestens ein Bild mit einer zweifellos antisemitischen Darstellung; darüber sind wir alle einig. Ich frage mich aber, warum wir immer noch so viel über dieses Plakat eines indonesischen Kollektivs sprechen, während der von Reichsbürgern versuchte Staatstreich, der vor einem Jahr durch den Einsatz von 3000 Polizisten verhindert wurde, praktisch aus den Medien verschwunden ist. Wir reden immer über Antisemitismus vom sogenannten "globalen Süden", von Muslimen – den es zweifellos gibt. Aber nach Angaben der Bundesinnenministeriums werden 84 Prozent der antisemitischen Straftaten von weißen Deutschen begangen. Wie kommt es, dass wir nicht über die Reichsbürger sprechen? Oder Hubert Aiwanger, der den 7. Oktober ganz schnell instrumentalisiert hat, um gegen Eiwanderer Stimmung zu machen? Stattdessen reden wir immer noch über die Documenta.

Aber es gibt ja nun einen neuen Fall: Die Unterschrift Ranjit Hoskotés unter eine Petition mit dem Verweis "BDS India". Die Debatte hat auch die Kulturpolitik erreicht. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat gedroht, die Bundesmittel für die Documenta zu streichen. Im Bundestag bereiten die Fraktionen der  Ampelkoalition einen Entschließungsantrag zur Debatte "Historische Verantwortung übernehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen" vor. Der Antrag knüpft an die bestehende BDS-Resolution an, die die Boykottkampagne BDS als antisemitisch einstufte. Ist er geeignet, um Antisemitismus in der Kulturwelt zu bekämpfen? 

Nein. Es gibt eine Redewendung, die Albert Einstein zugeschrieben wird, obwohl er sie nie gesagt hat: Das Gleiche immer und immer wieder zu tun und ein anderes Resultat zu erwarten, ist die Essenz von Dummheit. Das trifft die Sache ganz gut. Wir wissen, dass schon die erste BDS-Resolution den Antisemitismus nicht verhindert oder eingedämmt hat, ganz im Gegenteil: Seither hat der Antisemitismus noch zugenommen. Eine verstärkte Resolution wird daran ebenfalls nicht ändern können, im schlimmsten Fall sogar zu einem backlash führen. Was sich jetzt im ersten Entwurf des Papieres abzeichnet, käme einer Art Mega-BDS-Resolution gleich. Es werden darin noch stärkere Sanktionsmaßnahmen erwogen, bis zu dem Punkt, Institutionen Mittel zu entziehen und von Förderungen auszuschließen, die sich nicht an die IHRA-Definition von Antisemitismus halten.

Die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist umstritten, da sie Kritik an der israelischen Regierung mit Antisemitismus gleichsetze.

Hunderte Wissenschaftler und Institutionen, darunter einer der Autoren der IHRA-Definition, haben sie abgelehnt und als Gegenentwurf die "Jerusalem Declaration on Antisemitism" unterschrieben. Nicht einmal US-Präsident Joe Biden hat die IHRA-Definition angenommen. Die Definition ist weder klar noch kohärent, sie verwischt den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel. Sollte die Bundestagsresolution in derzeitiger Form tatsächlich verankert werden, wären die Auswirkungen auf das Kulturleben in Deutschland verheerend. Und zwar nicht nur von innen, sondern auch aus der Außenperspektive. Deutsche Stiftungen kriegen jetzt schon Bitten von Kulturinitiativen aus dem Ausland, die sagen: Vielen Dank für die Förderung, aber können wir bitte euren Namen von der Website nehmen, wir kriegen sonst Probleme. Es gibt jetzt schon Wissenschaftler und Künstler, die Angst haben nach Deutschland zu reisen, weil hier ein philosemitischer McCarthyismus grassiert. Das Kulturleben nimmt Schaden, Deutschland wird zunehmend isoliert, derweil wird das Leben für Juden in Deutschland kein bisschen sicherer.

Sie sagen, die erste BDS-Resolution habe den Antisemitismus nicht verhindert. Gleichwohl wurde der Documenta Fifteen vorgeworfen, dass sie keine festen Standards zur Verhinderung von Antisemitismus gehabt habe. Brauchen die Institutionen nicht eine verlässliche Basis, sei es die BDS-Resolution oder die IHRA-Definition, als eine solche Arbeitsgrundlage?

Aber das wäre eine Basis, die wie gesagt nicht einmal die amerikanische Regierung anerkannt hat. Zweitens ist es bekannt, dass der Wissenschaftsdienst des Deutschen Bundestages und diverse Gerichte schon die erste BDS-Resolution für nicht verfassungskonform erklärt haben. Und trotzdem wird sie de facto schon angewandt. Es werden jetzt schon die Social-Media-Accounts von Künstlern und Kuratoren auf "verdächtige" Postings durchsucht.

Wie handhaben Sie das an Ihrem eigenen Haus? Würden Sie eine BDS-nahe Künstlerin oder Wissenschaftlerin einladen?

Ich weiß nicht, was BDS-nah heißen soll. BDS ist keine offizielle Organisation, in die man sich als Mitglied einträgt. Was wir erleben, gleicht einem neuen McCarthyismus, wie wir es letztes Jahr beispielsweise auch am Metropoltheater in München erlebt haben, wo das Stück "Vögel" abgesetzt wurde, weil zwei jüdische Studentinnen es antisemitisch gefunden haben. Das Stück wurde von Wajdi Mouawad geschrieben in engster Zusammenarbeit mit der großen jüdische Historikerin Natalie Zemon Davis. Als sie einen Leitartikel schrieb, in dem sie erklärte, warum der Vorwurf des Antisemitismus absurd war, wurde ihr weiter vorgeworfen, sie unterstütze BDS – obwohl sie sich ausdrücklich dagegen positioniert hatte. In meinem Haus gibt es viele Kriterien, Menschen einzuladen, aber ich würde niemand einladen, der sich gegen die Werte Einsteins stellte. Er war ein furchtloser Sozialdemokrat, der immer für Menschenrechte und gegen den McCarthyismus eintrat.

Sie halten die BDS-Resolution für unbrauchbar im Kampf gegen Antisemitismus. Was hilft stattdessen aus Ihrer Sicht?

Der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aller Formen – das ist der einzige Weg. Wir dürfen nicht vergessen, dass die BDS-Resolution ursprünglich eine Idee der AfD war. Sie hatte mit großem Geschick einen Entwurf vorbereitet, der die anderen Parteien aufgeschreckt hat, denn natürlich wollten sie nicht als weniger philosemitisch dastehen, also haben sie selbst eben eine eigene BDS-Resolution erarbeitet. Das alles folgt einem Trick, den die neue Rechte in vielen Ländern anwendet. Ich habe dazu vergangenes Jahr die Tagung "Hijacking Memory" mitorganisiert, in der wir gezeigt haben, wie in 17 verschiedenen Ländern die neue Recht das Gedenken an den Holocaust instrumentalisiert. Wenn man schwört, dass man bedingungslos hinter Israel steht, kann man dem Vorwurf entgegnen, man sei Nazi. Unsere Tagung wurde zunächst viel gelobt, bis die Springer-Presse sich auf den einzigen palästinensischer Teilnehmer stürzte und dann behauptete, die ganze Tagung sei antisemitisch. Ironischerweise hat Springer damit genau den Mechanismus reproduziert, von dem die Tagung handelte. 

Aber gibt es nicht auch einen postkolonialen Antisemitismus? 

Definitiv. In meinem Buch "Links ist nicht woke" versuche ich, dieses Problem anzugehen. Es herrscht zurzeit eine große Verwirrung darüber, was links sein bedeutet. Die Linke fußt auf den Ideen des Universalismus und der Aufklärung, und daher halte ich die postkoloniale oder woke Linke nicht für genuin links, da sie stark von reaktionären Ideologien getrieben werden. Unter anderen verstehen sie Antisemitismus nicht als eine Form von Rassismus. Diese absurde Unterteilung in "globalen Süden" und "globalen Norden", wo Israel zum Norden erklärt wird und Palästina zum Süden, zeigt wie eng und absurd deren Sichtweise ist. Ich selbst bin als Jüdin in der Bürgerrechtsbewegung groß geworden. Es waren viele Juden an den antikolonialen Kämpfen in Südafrika und anderen Orten beteiligt. Viele jüdische Intellektuelle, mich selbst eingeschlossen, verwenden heute den Begriff "Apartheid" in Bezug auf die Palästinensergebiete – denn tatsächlich herrschen dort zwei unterschiedliche Rechtsbegriffe für zwei unterschiedliche Bevölkerungen. Womit ich hingegen ein Problem habe, ist der Begriff "Siedlerkolonialismus", denn er verwischt die historischen Unterschiede zwischen der Entstehung Israels und dem europäischen Kolonialismus in Indien, Afrika oder wo auch immer. Aber dazwischen kann man ja differenzieren.

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 haben Sie ein Buch über "Das Böse" geschrieben. Wenn Sie zurückblicken: Würden Sie sagen, dass die Debatten damals offener, differenzierter waren als heute?

Ich denke zurzeit viel an 9/11. Damals war es absolut möglich, zwei verschieden Formen des Bösen gleichzeitig zu verurteilen. Sowohl sein Entsetzen über die Terrorattacken von al-Quaida auszudrücken, wie auch entschieden gegen den Angriff auf den Irak zu sein. Genauso sollte es jetzt möglich sein, die israelische Regierung zu kritisieren – was israelische Zeitungen wie "Haaretz" tagtäglich tun. Das Schreckliche an den Hamas-Attacken ist sonnenklar, aber rechtfertigt das 14.000 Tote in Gaza? Warum ist es so schwierig, beides zu verurteilen?

Die Kulturwelt ist derzeit zerstritten wie nie zuvor. Welche Möglichkeiten eines positiven Neuanfangs sehen Sie, wie können die Gräben überwunden werden?

Es gibt in mehreren Ländern – auch in Israel - vereinzelte Koalitionen von Juden und Muslimen, die zusammenarbeiten wollen, um die Wunden zu heilen, um einen Weg zum Frieden zu finden. Die haben es schwer, werden von beiden Seiten als Verräter beschimpft. Aber es gibt diese Zusammenarbeit, auch in Deutschland. Darauf baue ich. Und ich hoffe, dass sich auch die Politik von diesen zivilgesellschaftlichen Projekten leiten lässt.