Anti-Rassismus-Proteste

Als hätte es endlich klick gemacht

Die "Black Lives Matter"-Proteste der vergangenen Wochen haben die Art verändert, wie über soziales Unrecht gesprochen wird. Das ist ein wichtiger Schritt, meint unsere Autorin - gerade weil es Unsicherheiten hervorruft  

In der Reihe "Unerwartete Fragen, die 2020 aufwirft" gibt es einige prominente Neuzugänge: Wie verhält man sich gerade richtig in den sozialen Medien? Ist Schweigen schon Mittäterschaft? Was hat das alles mit mir zu tun? Der Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis Ende Mai, der durch die gewaltsame Festnahme von vier Polizisten verschuldet wurde, löste erst in den USA, dann weltweit, Demonstrationen und Proteste aus. Der kollektive Geduldsfaden war gerissen und die wiederentfachte "Black Lives Matter"- Bewegung mobilisierte ein enormes Potenzial an Energie.

Wie in den letzten Jahren üblich, ging erst eine Welle der Empörung durch sämtliche Social-Media-Kanäle. Doch diesmal war es mehr als das. Vielleicht war es wegen der gemeinsamen Erfahrung der Corona-Krise oder der Unsicherheit bezüglich der diffusen Veränderungen unserer Lebenswelt: Der Funke schaffte den Sprung aus dem Stream auf die Straße. Endlich wieder raus, endlich wieder die Verbundenheit mit anderen spüren – und viel wichtiger: endlich dem vagen Gefühl, dass etwas gehörig falsch läuft, Taten folgen lassen.

Auch bei uns hier in Europa. Eine ältere Passantin, die eine der Demonstrationen der letzten Wochen beobachtete, rief der Masse an Leuten zu, was sie da eigentlich machten. Auf der anderen Seite der Welt gegen Rassismus in den USA auf die Straße gehen. Sollen die doch dort demonstrieren! Was haben wir mit deren Problemen zu tun? Rassistisch motivierte Polizeigewalt tritt hier – zum Glück – nicht in der Härte und Regelmäßigkeit auf, wie es in den USA der Fall ist. Das bedeutet nicht, dass sie nicht existiert. Das bedeutet auch nicht, dass wir in Europa nicht dasselbe Problem haben: soziale Ungerechtigkeit.

Wie verbünde ich mich richtig?

Benachteiligungen weil man Schwarz oder of color oder Frau oder divers oder nicht-hetero oder nicht-christlich oder behindert oder arm oder weniger gebildet ist, weil man den falschen Nachnamen trägt oder die gängige Sprache nicht perfekt beherrscht. Auch unser Gesellschaftssystem bestraft Dinge, für die man meistens nichts kann und für die man sicher nicht anders behandelt werden sollte. Dass der afroamerikanischen Bevölkerung selbst nach Jahrhunderten noch keine Freiheit und Sicherheit im eigenen Land zugestanden wird, ist ein universelles Unrecht. Der Tod von George Floyd bündelte die über lange Zeit angestaute Hilflosigkeit und ausgelöst davon lehnen sich weltweit Menschen gegen jede Form von Unrecht auf.

Als hätte es endlich klick gemacht, ändert sich auch die Art, wie man über dieses Unrecht spricht. Neue Fragen tauchen auf: Was kann ich tun? Wie kann ich eine wirkliche Verbündete (die oft erwähnte ally) sein, auch wenn ich nicht betroffen bin? Wo tappe ich noch in Fallen und mache Fehler? Der anklagende Ton aus der Opfer-Täter-Gegenüberstellung wandelt sich mehr und mehr zu konstruktiven Ideen zur Veränderung. Fordert sie verdammt nochmal ein! Ein entscheidender Schritt, denn zum ersten Mal scheint sich der Spieß wirklich zu drehen. Nicht die Minderheiten kämpfen gegen "das System", sondern setzen den Hebel bei denjenigen an, die es wirklich können: der Mehrheit.

Kunst, Kultur und Medien kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Sie sind die Bereiche, in denen wir als Gesellschaft öffentlich wahrnehmen und verhandeln, welche Werte zu unserer Norm gehören, akzeptabel sind und welche nicht. Rassismus ist ein Narrativ von Ungleichheit. Eine Begründung, die konstruiert wurde, als es darum ging Menschen zu versklaven, zu enteignen, sich über sie zu stellen und über ihr Leben zu richten. Er ist eine Geschichte, die sich im Bild von Schwarzen Menschen in der öffentlichen Wahrnehmung seit Jahrhunderten fortschreibt. Bis heute, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Berichterstattung über Schwarze Menschen aus den Bereichen Migration, Polizeigewalt und Armut kommt. Doch das Schöne an einem Narrativ ist, dass man es mit jeder neuen Erzählung verändern kann.

Das System steckt in jedem von uns

In der aktuellen Rassismus-Debatte herrschen viel Verunsicherung und das Gefühl, garantiert etwas falsch zu machen. Das ist gut, denn es zeigt, dass den Status Quo aufrecht zu erhalten keine wirkliche Option mehr ist. Ich selbst habe lange gebraucht, um zu entscheiden, wie und ob ich mich zur intensiven Debatte äußern kann und soll. Und das, obwohl die kulturelle Repräsentation der afrikanischen Diaspora ein Fokus meiner journalistischen Arbeit ist und ich als Afro-Deutsche einiges zu Rassismus zu erzählen hätte. Und trotzdem frage ich mich, was für eine Legitimation ich habe, überhaupt über die Erfahrungen von Schwarzen Menschen zu äußern, privilegiert wie ich in Deutschland aufgewachsen bin. Das System mit seinen etablierten Wertvorstellungen steckt ein Stück weit in ziemlich jedem von uns, selbst wenn wir zu einer Minderheit zählen. Eine weiße Frau betrifft kein Rassismus, dafür aber Sexismus, einen homosexuellen Mann dafür aber Homophobie. Doch die persönliche Unsicherheit walten zu lassen, ist genauso wenig eine Option wie zum Status Quo zurückzukehren.

Wir können nichts daran ändern, wie Schwarze Menschen bis jetzt in Kunst, Kultur und Medien dargestellt wurden, aber wir können das bestehende Repertoire in einen besseren Kontext setzen. Und wir können bei jedem von uns ansetzen, unsere Narrative stärker zu hinterfragen, denn sie sind die Quelle eines gesamtgesellschaftlichen Konsens – und letztlich "des Systems". Wie lassen sich die Entwicklungen der letzten Jahre anders deuten? Wo sollen die Diversitätsstellen in den Institutionen und Unternehmen, die Provenienzforschungen, die Quotenregelungen, die politisierte Kunst und boykottierte Biennalen hinführen, wenn nicht zu einem Wertesystem, hinter dem wir vollumfänglich stehen können? Gesellschaftlicher Fortschritt ist ein gemeinsames Projekt. Und es hat längst begonnen.