Ausstellung "Nocturnal"

Die Parallelwelt, die fehlt

Die Ausstellung "Nocturnal" der Geschwister Pola und Orson Sieverding führt in die brutal ausgebremste Berliner Clubkultur. Sie zeigt eine Freiheit, die wir während der Corona-Pandemie nicht vergessen dürfen

Es geht ein paar Stufen herab in einen Keller. Die Leuchtskulptur in der Mitte des Raumes bringt jeden hellen Fussel auf der Jacke zum Strahlen und beschwört Nachbilder aus anderen Zeiten herauf: Schwarzlicht. Im Nebenraum wallt Kunstnebel, gerade ändert sich die Beleuchtung von Rot nach Grün. Man könnte fast denken, man wäre dort, wo gerade keiner mehr ist: in einem Club. Aber das, was schemenhaft aus dem Dunst erscheint, sind keine Boxen, sondern Fotos. Sie zeigen Gesichter von Menschen an Mischpulten, die aus dem Dunkel der Nacht herausleuchten, in einer Aureole von Konzentration und Sound.

"Nocturnal" heißt die Ausstellung, die die Geschwister Pola Sieverding und Orson Sieverding gerade in dem Berliner Projektraum Kanya & Kage eröffnet haben. Und sie beschäftigt sich auf eine so überzeugende wie schmerzhafte Weise mit dem, was uns gerade fehlt: der Parallelwelt der Nacht. Orson Sieverding betreibt das Techno-Label Version, ist DJ und Musikproduzent, in dem Berliner Club Ohm neben dem Tresor lud er regelmäßig zu Label-Abenden ein. Bis Corona ihn brutal ausbremste.

Jetzt hat seine Schwester Pola Sieverding, Fotografin, Installations- und Medienkünstlerin, ihn zu dieser gemeinsamen Hommage an die Clubszene eingeladen. Es ist das erste Mal, dass die Geschwister offiziell zusammen auftreten beziehungsweise ausstellen. Dass künstlerische Arbeit ein Familienprojekt sein kann, haben sie allerdings von Kindheit an gemeinsam mit ihren Eltern Katharina Sieverding und Klaus Mettig gelernt. Auch die Prints für die Berliner Ausstellung wurden nun in dem großen Fotoatelier der Familie Mettig / Sieverding in Düsseldorf produziert.

Ekstase und deprimierende Gegenwart

Die Fotos der DJs, von der Berliner Legende Mark Ernestus über die britischen Künstlerin Ikonika bis zu der Berlinerin Clara Badu und Orson selbst, hat Pola Sieverding im Laufe der letzten Jahre bei Orsons Veranstaltungen gemacht. Die Bilder zeigen nicht die tanzende Menge und auch keine heroischen Zeremonienmeister, sondern sie porträtieren eine extrem diverse Gemeinschaft von Künstlern und Künstlerinnen bei der Verschmelzung von Rhythmus, Komplexität, Bewegung, Emotion und Ekstase. Eigentlich gilt ja Fotografierverbot in Clubs, erklärt Orson, aber mit seiner Künstlerfamilie im Hintergrund war ihm einfach klar, dass diese Szenen und diese Momente auch bildlich festgehalten werden müssen.

In einem Video im anderen Raum stellt er die deprimierende Gegenwart dagegen: Hier zeigt er die verlassenen Eingänge von Berliner Clubs, vom Tresor über das About:Blank bis zum Berghain. Gegenüber hängt die Fotografie "Purple Haze" von Pola Sieverding, die noch einmal ins Herz der Nacht zielt: Im rötlichen Gegenlicht erscheint ein Wesen im langen Kleid, dessen Gesicht wir nicht sehen und dessen Geschlecht nicht zu definieren ist – als Chiffre einer Freiheit, deren Wert wir nicht vergessen dürfen, während die Clubtüren zu bleiben.