"Pop-Kultur"-Festival

Bilderpop deluxe

Das staatlich geförderte Festival "Pop-Kultur" gibt es seit fünf Jahren in Berlin. Die aktuelle Ausgabe zieht eine Benchmark ein, wie Pop in der Pandemie geht. Radikal digital, supergut

Die südafrikanische Rapperin Yugen Blakrok sitzt in ihrem Garten vor hellroten Wänden auf einem gelben Stuhl und erzählt gelassen, was sie inspiriert. Keine sinnlos schnellen Schnitte oder Soundeffekte, wie sie besonders das Erwachsenenfernsehen mag, wenn es dem überalterten Publikum etwas verlorene Jugend suggerieren möchte. Danach zeigt Blakrok ein Video zu ihrem Song "Ochre" - Abendsonne, Ruinen, Natur, Blakrok und eine Statistin in Roben. Die Beats stolpern verpeilt, ihre Stimme klingt nach Sandpapier und ihre Haltung stolz. Das ist Musikfernsehen, das es noch nie so richtig gab. Und erst recht nicht mehr gibt. Außer beim Festival "Pop-Kultur" in Berlin. Und Blakrok ist nur eins von 36 Beispielen. Aber von vorne.

Hat der Duden den Begriff der Streaming-Fatigue schon im Blick? Diese Müdigkeit beim bloßen Gedanken, schon wieder eine kulturelle Veranstaltung im Internet verfolgen zu müssen? Da sitzen dann ein paar Auserwählte als Bildtapete, wie früher in den Fernsehstudios, und hören brav zu, wie Performer*innen so etwas wie Normalität aufführen. Die drei Kurator*innen des Festivals "Pop-Kultur" in Berlin haben im Frühjahr eine radikale Entscheidung getroffen: keine Konzerte, keine Versammlungen vor Ort in Berlin. Katja Lucker, Direktorin des Festivals und Chefin der Berliner Pop-Behörde Musicboard, sagt: "Am Anfang der Pandemie dachten viele, ach, das ist bis Ende August wieder vorbei. Wir wollten uns aber für ein Format entscheiden, das in jedem Fall umsetzbar sein würde. Was wir in keinem Fall wollten: Livestreaming."

Das Resultat dieser Entscheidung ist nun auf pop-kultur.berlin zu sehen: 36 audiovisuelle Werke, alle vorproduziert. Nichts simuliert ein Konzert, das ja doch nicht glaubwürdig wirkt und so erst recht auf den Mangel hinweist, dass wir uns aus Vor- und Rücksicht nicht versammeln können. Die Struktur des Festivals bleibt ein wenig erhalten, es gibt, wie seit der Gründung vor fünf Jahren, drei Tage. Täglich wird eine neue Show kostenlos zugänglich, die in einer Stunde einen Überblick über das virtuelle Tagesprogramm gibt (nach Ende des Festivals am Freitagabend, 28. August, bleibt die Mediathek mindestens ein Jahr lang zugänglich, manches sogar noch viel länger).

Geschlechtergleichheit und Diversität

Normalerweise versammeln sich bei "Pop-Kultur" drei Tage lang Musikbegeisterte quer durch alle Altersgruppen, um internationale Entdeckungen, größere Namen und lokale Bands zu sehen. Es wird auch viel diskutiert und vor Ort gefeiert. In die Schlagzeilen geriet das Festival wiederholt, weil die Organisation BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) weltweit zu seinem Boykott aufruft, da die israelische Botschaft einzelne Künstler*innen mit Reisekosten bezuschusst hat. Die Folge: Viele Bands aus England, den USA und auch aus dem arabischen Raum blieben "Pop-Kultur" fern. Trotz dieser Probleme schafften es die Direktorin Katja Lucker, ihre beiden Kuratoren Christian Morin und Martin Hossbach sowie viele andere, ein spannendes Programm zusammenzustellen, das zudem in Sachen Geschlechtergleichheit und Diversität seinesgleichen sucht auf dem freien Markt. Und das ohne künstlerische Abstriche und ohne Publikumsschwund.

Reisekosten gibt es keine bei dieser Ausgabe, doch der Anspruch von Geschlechtergleichheit, Inklusion (vieles mit Gebärdensprache übersetzt zum Beispiel) sowie Diversität bleibt erhalten. 

Drei Hauptformate führen durch das Programm: Es gibt die "Sessions", in denen Bands zwei oder drei Stücke in den Räumen der Kulturbrauerei in Berlin unter Live-Bedingungen aufführen, aber ohne Publikum.  Der Fokus bleibt auf der Musik, nicht auf der Simulation einer abwesenden Atmosphäre. Es gibt die "Digital Works", in denen internationale Künstler*innen sich eigene Formate überlegen, zum Teil als Kollaborationen über Kontinente hinweg. Und es gibt auch die "Commissioned Works", regelrechte Auftragsarbeiten, die Erzählformen finden, die über Konzerte und Musikvideos hinausgehen. Dazu gibt es Gesprächsrunden und eine Website, die, das ist nicht selbstverständlich im Popbereich, sorgfältig getextet wurde und zusätzlichen Content zu einzelnen Acts bietet.

Selbst der Spaß kommt nicht zu kurz

Manche Beiträge sind sehr schick produziert wie der von Yugen Blakrok. Umwerfend ist auch der Kurzfilm der Israelin Noga Erez, eine Auftragsarbeit. "You so done" beginnt wie ein Hollywood-Thriller, aber die Parodie ist kaum erkennbar, weil so selbstbewusst inszeniert. Nach dreieinhalb Minuten beginnt der Song, in der die Sängerin von einem Roboter auf einem rekonstruierten Tatort herumgeschleudert wird. Wie gesagt, das ist nicht ein Promo-Video, sondern eine Auftragsarbeit eines Berliner Festivals. Und es bleibt in der Mediathek kostenfrei abrufbar, vorerst auf unbegrenzte Zeit.

Staatskohle wurde schon dümmer verbrannt. Und habe ich schon die lange Session der Hamburger Rapperin Preach erwähnt, oder den sexpositiven queeren Goonda-Rap von Madras Cartel aus Toronto? Man denkt oft erst, aha, das ist ein lustiger Skype-Anruf oder ein Handy-Video, na gut. Und dann folgen diese audiovisuellen Bretter wie bei Madras Cartel oder Preach.

Derweil sieht man auch klassischere Bandaufnahmen wie etwa von The Notwist, The Düsseldorf Düsterboys oder Isolation Berlin, alle aus Deutschland – das sind konzertante Miniaturen, die sich aber ganz auf die Bühne konzentrieren und nicht versuchen, ein Konzert zu simulieren. Und es geht auch fast intim. Hinreißend, wie Jessy Lanza zu Hause an Keyboard, Geräten und Mikrofon sitzt, zwei ihrer Lieblings-Covers vorstellt und erklärt, was in den Akkorden da so los ist und alles vorsingt. Selbst der Spaß kommt nicht zu kurz, etwa bei der reifen Transvestitenband Eat Lipstick, die von Peaches produziert wurde: Wir sehen die Band Backstage herumalbern, dann rocken sie los auf der Bühne, als wäre es 1972 und der Glam Rock stünde in den Charts: herrlich dämlich!

"Pop-Kultur" hatte nicht im Sinn, mit der radikal digitalen Ausgabe einen Standard zu setzen. Alle wollen zurück in die Räume, niemand träumt vom Internet als Ersatz für die verschwitzte Versammlung. Und doch ist dem Festival damit eine Benchmark gelungen, wie man unter pandemischen Bedingungen Musik und ihre Macher*innen unter die Leute bringt, und zwar unter alle.