Pressestimmen zur neuen Documenta-Leitung

"Riskant, aber zu begrüßen"

An der neuen Documenta-Leitung scheiden sich die Geister: Während sich die einen frischen Wind vom nicht-europäischen und zehnköpfigen Kollektiv Ruangrupa erhoffen, halten die anderen die Berufung für einen wahrgewordenen Witz

Am Freitag gab Sabine Schormann, die Generaldirektorin der Documenta, die Überraschung auf der Pressekonferenz in Kassel bekannt: Das indonesische und bis dahin in Deutschland eher unbekannte Künstlerkollektiv Ruangrupa übernimmt die Leitung der 15. Ausgabe der großen Weltkunstschau 2022. Erstmals in mehr als 60 Jahren Documenta-Geschichte wird sie damit einem Kollektiv anvertraut, erstmals stammt die Leitung aus dem asiatischen Raum - was nach Einschätzung Sebastian Frenzels von Monopol für Entkrampfung sorgen könnte.

Das Kollektiv tritt damit in die Fußspuren des Polen Adam Szymczyks, dessen letzte Documenta nicht nur wegen der roten Zahlen kritisiert, sondern auch künstlerisch von vielen Kritikern als zu didaktisch, politisch und zu schwer verständlich beurteilt wurde. Ruangrupa planen eine experimentellere und partizipativere Ausrichtung: "Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcen­nutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen", erklärten die Vertreter Ade Darmawan und Farid Rakun auf der Pressekonferenz und sorgten für gemischte Reaktionen.

Kolja Reichert von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" beschreibt die Bekanntgabe in seinem Statement als einen wahrgewordenen Witz, der im Kontext der Negativschlagzeilen der letzten Documenta doch sehr überrascht. Er betont, dass Ruangrupa ein Künstlerkollektiv sei, das "keiner kennt und das die Documenta und deren Geschichte kaum kennt." Auch merkt er an, dass weder die Entscheidung einem Team die Leitung zu übertragen, noch die soziale Ausrichtung dieses Kollektivs, im Vergleich zu anderen großen Kunstausstellungen ein revolutionäres Ereignis sei.

Swantje Karich von der "Welt" schreibt, dass es verständlich sei, auf die Entscheidung im ersten Moment "mit einem kurzen Schlucken" zu reagieren, doch "je länger man Farid Rakun und Ade Darmawan beobachtete, desto mehr wurde die Enttäuschung von Erleichterung abgelöst. Denn auch wenn wir uns von der klassischen Kunst auf der Documenta und einem erweiterten, aber doch begrenzten Kunstbegriff, wie ihn das Festival seit Jahrzehnten so beeindruckend praktizierte, erst mal verabschieden müssen, tut der humanistische Ton doch gut." Sie spricht auch von einem "Social Turn".

Christian Saehrendt der "Neuen Züricher Zeitung" beurteilt die Entscheidung, die Leitung einem Kollektiv anzuvertrauen, als "riskant, aber zu begrüssen" und betont die wichtigen außereuropäischen Impulse, die es mitbringt. Eine Schwierigkeit sieht er allerdings darin, dass der Großteil des Kollektivs von Jakarta aus und nicht vor Ort arbeiten wird: "Wird Ruangrupa in Kassel eine starke Kunstausstellung zeigen, oder verliert sich die nächste Documenta in einer Vielzahl von soziokulturellen Projekten zwischen Java und Nordhessen?" Und dennoch lohnt sich das Risiko in seinen Augen: "Wer wagt, gewinnt!"

Ludger Fittkau, Korrespondent von "Deutschlandfunk Kultur", gibt außderdem zu bedenken, dass es für den Beirat der Kunstschau nicht einfach wird, da es sich um eine sehr große Gruppe handelt: "Da wird es eine Menge Diskussionen geben, wenn dann diesmal der Beirat mitmischt und mitredet."

Auf die Frage, ob die Findungskommission mit dieser Wahl ein Gegenprogramm zum letzten Documenta-Leiter Szymczyk plane, antwortet der Kunstkritiker Carsten Probst im Interview mit dem "Deutschlandfunk": "Gegenprogramm in keinem Fall. Ich bin nach einiger Überlegung sogar fast der Meinung, dass man vieles fortsetzt jetzt mit dem, was Szymczyk ebenfalls schon betrieben hat mit seinem Ansatz." Er bleibt neugierig: "Ich bin sehr gespannt, was wir dann in Kassel erleben werden, ob es dieser Gruppe aus Indonesien wirklich gelingt, das auch wirklich weltumspannend zu verwirklichen, dass die Leute auf Kassel wieder – man kann sagen – noch mal neu neugierig werden, dass sich die documenta vielleicht noch mal ein Stück weitererfinden und -entwickeln kann."

Ulrike Knöfel von "Spiegel Online" hofft auf einen interessanten Neuanfang für die bis dahin problematische Documenta. Das Herkunftsland Indonesien beschreibt sie als ein "Land der Vulkane, in dem die Kunst in gewisser Weise ohnehin längst weiter ist, weniger gefangen in jenen Debatten, die im Westen geführt werden. Noch dazu sind hier keine Kuratoren im traditionellen Sinn am Werk." Zu dem betont partizipativen Ansatz äußert sie sich etwas verhalten: "Gerne wird in Kassel die soziale, gesellschaftliche Kraft von Kunst behauptet. Und eine Lieblingsvokabel der Kunstwelt wird auch unter dieser Chefetage mehr denn je von Bedeutung sein: Partizipation, also Teilnahme, die Einbindung von Menschen, Gruppen, Institutionen."

Catrin Lorch von der "Süddeutschen Zeitung" sieht in der Entscheidung einen mutigen Schritt: "Die Zusammenarbeit mit zehn künstlerischen Leitern, die eine eigene Perspektive auf den westlich geprägten Kunstkontext mitbringen, wird eine Herausforderung."

Für Stefan Lüddemann von der "Osnabrücker Zeitung" geht es kaum radikaler, denn "mit der Entscheidung für das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa als Leitung der nächsten Documenta avanciert die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst endgültig zum globalen Unternehmen." Außerderdem prognostiziert er: "Kunst wird weniger elitär sein, auch um den Preis, im Alltag zu verschwinden. Zugleich kehrt sich der Blick endgültig um. Er geht nicht mehr von Kassel in die Welt, sondern von Jakarta überall hin."

Dylan Amirio und Stevie Emilia von "The Jakarta Post" schreiben erfreut: "Ruangrupa ist eine einzigartige Wahl für die 15. Ausgabe der Documenta, da zum ersten Mal die kuratorische Rolle des Festivals einer Gruppe von Künstlern und nicht Profis oder Vollzeit-Kunstkuratoren, verliehen wurde."