Hirst-Doku auf Netflix

Komm ins Abenteuerland

Mit dem Dokumentarfilm "Treasures from the Wreck of the Unbelievable", der jetzt auf Netflix zu sehen ist, erzählt der Hai-Einleger Damien Hirst ein weiteres Meeresabenteuer: die fiktive Schatzsuche hinter seiner spektakulären Ausstellung vergangenes Jahr in Venedig. Eigentlich ein raffiniertes Unternehmen, das allerdings von der Protzsucht des britischen Künstlers getrübt wird

2008 entdeckt der Heidelberger Doktorand Peter Weiss auf Youtube ein offenbar von einem Rucksacktourist aufgenommenes Amateurvideo: An einem Strand in Ostafrika ziehen Fischer eine Skulptur aus dem Meer. Weiss' Interesse ist geweckt. Mit der Promotion läuft's eh gerade schleppend, er reist nach Afrika, macht den Strand ausfindig, mietet sich ein Taucher-Team und sucht sporadisch das Meer vor der Küste ab. Tagelang nichts, dann – man wollte schon aufgeben – findet die Crew eine korallenüberwachsene Büste im Riff.

2008 schmeißt der britische Künstler Damien Hirst in einer aufsehenerregenden Auktion fast seine gesamten Kunstwerke auf den Markt und erzielt in den Tagen, in denen mit dem Untergang der Lehman-Brothers-Bank die Finanzkrise und das Ende des Zynismus beginnt, 140 Millionen Euro. 

In dem von Hirst produzierten Dokumentarfilm "Treasures from the Wreck of the Unbelievable" führt  Regisseur Sam Hobkinson diese beiden Ereignisse zusammen: Peter Weiss braucht einem Sponsor für eine große Schatzsuche, sieht Hirst in den Nachrichten und spricht den ihm unbekannten Künstler an. Tatsächlich sei für den ehemaligen Young British Artist der Selbstausverkauf bei der Auktion eine Zäsur gewesen, erzählt Hirst in "Treasures", er habe etwas Neues gesucht, und da er sich schon als Kind für Meeresabenteuer begeistert habe, muss er nicht groß überzeugt werden. Die Expedition beginnt.

"Treasures from the Wreck of the Unbelievable" ist jetzt auf Netflix zu sehen, ein Dreivierteljahr nach der Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung im Palazzo Grassi und in der Punta della Dogana in Venedig, den Privatmuseen des Luxusgütermagnaten François Pinault. Mit dieser Schau feierte Hirst nach einer Dekade, in der es ungewohnt ruhig um ihn war, ein Comeback. Allein die Herstellungskosten für die rund 150 Werke sollen sich auf 50 Millionen Pfund belaufen. Aber Moment: Herstellungskosten? Hier wurden doch vom Boden des Meeres geborgene Münzen, Schmuckstücke und Skulpturen gezeigt. Wie sie nach Venedig kamen, erzählt jetzt der Dokumentarfilm, der natürlich keine Doku ist, sondern eine Mockumentary, eine Fake-Doku.

Kommentare im Internet legen nahe, dass viele Netflix-Zuschauer die Geschichte tatsächlich glauben, auch wenn das großartig ironische Schlussbild des Films die Doku als Schwindel entlarvt. Das "Unglaubliche", das schon im Titel angesprochen wird, wird während der knapp anderthalb Stunden so oft beschworen, dass die suspension of disbelief gelingt. Gerne macht man sich mit den Archäologen, Tauchern, Meeresgeologen und der Schiffsbesatzung auf die Reise, bangt mit dem manischen, hageren Peter Weiss (kennen Hirst und Hobkinson eigentlich "Die Ästhetik des Widerstands" des realen gleichnamigen Schriftstellers, für den ja Géricaults Schiffbruch-Gemälde "Das Floß der Medusa" eine große Rolle spielte?), folgt den Tauchern in die Tiefen, wo eine Unglaublichkeit nach der anderen am Boden liegt, schippert mit Hirst nach Venedig, wo er schon mal die Räume inspiziert.

Nach und nach kommt heraus, dass im ersten Jahrhundert ein römischer Kunstsammler namens Amotan – bislang nur aus der Mythologie bekannt – ein Schiff mit all seinen Schätzen belud, um damit einen neuen Tempel zu bestücken. Im Sturm kenterte es vor Ostafrika, ein Teil der Besatzung wollte noch mit dem Gold fliehen, vergebens.

Mit den inszenierten historischen Szenen, den talking heads der Fachleute, der in aufgewühlten Situationen verwackelten Kamera und den symphonischen Musik hat "Treasures" alles, was eine schmissige Doku ausmacht. Wie gut allein Peter Weiss mit seinen Outdoor-Sandalen, seinem Khakihemd und hölzernen Akzent als Typ "Deutscher in den Tropen" getroffen ist! Haben wir es am Ende also mit einer Parodie zu tun? Zumindest nimmt man dem zwar cleveren, aber doch Anti-Intellektuellen Damien Hirst seine naive Begeisterung sofort ab. "Wir suchen heutzutage nach Wissen statt nach Schätzen", sagt er einmal bedauernd.

Dann wird der schwärmerische Impetus wieder durch heftiges Augenzwinkern gebrochen, etwa wenn ein Wissenschaftler sagt: "Ich weiß nicht, ob wirklich Amotan hinter all dem steckt, aber es muss jemand gewesen sein mit Fantasie und einem riesen Ego." Womit dann wohl Hirst gemeint ist.

Auch aus unternehmerischer Sicht ist dieser Film bestimmt ein Erfolg, ist er doch eine Hommage an exzentrische Sammler, an jenes Klientel also, das Hirst all die 2017 in Venedig ausgestellten "Schätze" wieder abkaufen soll, all die mit Korallen und Versteinerungen überzogene Meerjungfrauen, Zyklopen, Einhörner, Münzen und Kultgegenstände. Gleichzeitig macht die Doku die Exponate fast schon konzeptkunstartig zur Nebensache: Das Größte ist doch die sensationelle Story dahinter.

So weit, so raffiniert, so stimmig. Der Bogen ist geschlagen: Vom eingelegten Hai, der Hirst in den 90er-Jahren berühmt machte, zu den Unterwasserwundern von Amotan. Am Ende stellt sich aber doch die Frage, wozu wir solche Fake-Historie brauchen, wenn die Geschichte selbst doch eine Vielzahl von wunderbaren Artefakten bereithält. Die Antwort, die Hirst gibt, ist letztlich deprimierend: Die Geschichte ist nicht groß genug. Natürlich ist sein untergegangenes Schiff doppelt so groß wie das bislang bekannte größte römische Schiff der Nero-Ära, die Schätze auf dem Boot spektakulärer als alle archäologischen Funde es je seien können. Die überbordende Fantasie von "Treasures from the Wreck of the Unbelievable" könnte deshalb auch nur Ausdruck von überbordener Langeweile sein.