"Fotografie 2.0"-Kolumne

Wie Selfies durch AR-Filter wieder interessant werden

Hier kommt die zweite Welle des Selfie-Booms: Augmented-Reality-Filter retten Instagram vor dem endgültigen Sturz in die Langeweile. Künstler entwickeln eigene Filter und basteln mit an der Zukunft der digitalen Identität

Selfies, das muss ich leider zugeben, haben mich nie sehr bewegt. Ein Bekannter erzählte kürzlich aufgeregt, dass er auf Instagram keine Selfies postet. "No selfies", steht in seinem Profil. "Never", damit es zu keinen Missverständnissen kommt. Ein anderer Bekannter kann sich nicht vorstellen, dass Menschen auf Instagram etwas anderes zeigen als sich selbst. Ich bin irgendwo dazwischen, aber unaufgeregt, irgendwie emotionslos. Wenn mir ein Spiegel begegnet, mache ich manchmal ein Selfie. Besonders hoch ist die Wahrscheinlichkeit in Museen auf Toiletten. Es gibt da einen running gag zwischen mir und einer Freundin, der, auch das muss ich zugeben, in den letzten zwei Jahren etwas eingeschlafen ist. Jedenfalls haben wir uns in Museen auf Toiletten vor dem Spiegel fotografiert, weil viele andere sich in Museen vor spiegelnden Kunstwerken fotografieren. Ich glaube, wir fanden das subversiv. 

Seit es AR-Filter gibt, bin auch ich aufgeregt. Nicht sehr, aber ein bisschen. Und nicht so wie die Menschen, für die Selfies mindestens den Untergang der Zivilisation bedeuten, weil wiederum die Menschen, die Selfies machen, narzisstisch und exhibitionistisch sind. Kritiker sind sich da sicher, die Wissenschaft derweil ist es noch nicht so sehr. Vielleicht sind besonders Männer, die Selfies machen, Narzissten, vielleicht sind es Frauen. 

Die Literatur über Selfies füllt seit 2014 in Bibliotheken langsam Regal um Regal, besonders im englischsprachigen Raum. Die Ausstellungswelle über Selfies ist derweil längst abgeebbt. "Ego Update" (NRW-Forum Düsseldorf) und "Ich bin hier!" (Kunsthalle Karlsruhe) riefen 2016 einige der Ausstellungstitel aus. Es ging von "Rembrandt zum Selbstporträt" und um die "Zukunft der digitalen Identität". Steht das Selfie in der Tradition des Selbstporträts oder nicht? Und wer ist narzisstischer: Künstler mit ihren Selbstporträts oder Amateure mit ihren Selfies? Diese Fragen werden bis heute verhandelt. Parallel dazu gab es immer Kunstwissenschaftler und Social-Media-Theoretiker, die nicht zur Narzissmus-Keule griffen. Bilder sind in den sozialen Medien zu einem Mittel der Kommunikation geworden, sie sind "conversational images" (André Gunthert), weil sie kommentiert und geteilt werden sollen, "Selfies sind eine Lingua Franca der Geselligkeit" (Nathan Jurgenson). 

Oder etwas nüchterner: "Selbstfindung in sozialen Medien (…) ist in Wirklichkeit nur die Produktion von Kommunikation, die nicht dem Selbst einen Wert gibt, sondern dem Netzwerk, das mehr Daten tragen (und speichern und verkaufen) kann." (Rob Horning)

Während die einen also die Narzissmus-Keule schwingen, sagen die anderen, chillt mal, sie wollen doch nur kommunizieren. 

Von der Zukunft der digitalen Identität war in der ersten Welle des Selfie-Booms noch nicht viel zu sehen. Früher gingen Frauen mit Fotos von Promis zum Schönheitschirurgen, das Gesicht oder der Körper des Promis waren das angestrebte Ideal. Jetzt gehen Frauen mit Fotos von sich selbst zum Schönheitschirurgen, das eigene Gesicht, geglättet und aufgehübscht durch Snapchat- und Instagram-Filter, ist das neue Ideal. Mit Filter fühlen sie sich attraktiv, ohne nicht. Sie möchten aussehen wie auf den niedlichen Bildern, die sie an das Date oder den Partner senden und in den sozialen Medien teilen. Große Augen, hohe Wangenknochen, schmales Gesicht, volle Lippen. Kindlich, glatt, makel- und alterslos. Es gibt Studien, die belegen, dass die Anzahl der Patienten steigt, die aussehen wollen wie ihr Selfie. Und es gibt Journalistinnen, die sich für einen Selbstversuch das Gesicht schminken lassen, als würden sie mit einem Selfie-Filter durchs Leben gehen. Das Ergebnis: schön, aber zu aufwändig und unangenehm im Alltag – das Gesicht schmilzt nämlich in der Sonne wie Eis. 

Jetzt kommt die zweite Welle des Selfie-Booms mit voller Wucht angerollt. Und mit ihr die Zukunft der digitalen Identität. Instagram hat mal wieder ein Feature von Snapchat übernommen, nämlich Augmented-Reality-Filter, die Snapchat seit Ende 2015 hat. Katzen- und Hundeohren gibt es natürlich auch im sozialen Fotonetzwerk schon länger. Seit aber auch so genannte Creator eigene Filter launchen können, der Beta-Test läuft aktuell noch, wird es technisch und futuristisch statt immer nur niedlich und hübsch. 


Künstler, Digital Artists und Make-up Artists, springen auf den Zug auf, haben aber wenig Interesse an Filtern, die gängige Schönheitsideale weiter füttern wie die von Brands und Influencern. Letzten Sommer hatte beispielsweise Kylie Jenner einen Filter gelauncht, mit dem Lippenstift aus ihrer Linie Kylie Cosmetics virtuell ausprobiert werden konnte. Mit Lippenstift allein wäre man etwas nackig gewesen, deshalb springt einem gleich die volle Ladung Make-up ins Gesicht. Schließlich soll man sich so schön fühlen, dass man sich mit dem neuen Look der ganzen Welt präsentieren möchte.

Künstler derweil denken sich: Ihr wollt es künstlich und unecht, ihr wollt euch spiegeln und bewundern, wir geben euch Plastik und Künstlichkeit und Spiegel. So wie Johanna Jaskowska, auf Instagram bekannt als @johwska – von ihr sind unter anderem die Filter "Beauty 3000“, "Zoufriya", "Turfu" und "Narcisse". Sie verwandeln Gesichter in hyperglatte, glänzende und reflektierende Oberflächen. Das sieht dann aus, als hätte sich jemand eine mit Vaseline beschmierte Puppenmaske übergezogen und wäre damit in eine Disko gegangen. Jaskowska hat mittlerweile fast 700.000 Follower, was auch daran liegt, dass man Filter nur nutzen kann, wenn man dem Creator folgt, von dem der jeweilige Filter stammt. Jaskowska hat mit dem Plastik-Look eine Antwort auf das überschminkte Puppengesicht von Kim Kardashian geliefert, die daneben fast natürlich wirkt.


Mit Filtern von Liam O’Neill mutiert man zum Cyborg. Angelina Aleksandrovich macht das Gesicht fertig für die "Plastic Surgery", so auch der Name des Filters, Spritzen stecken in der Haut. "Fragments" von @exitsimulation zerlegt das Gesicht in seine Einzelteile. Allan Berger verpasst einem mit "DragonMuse4001" ein Gesichtstattoo. Ein "Big Blue Face" bekommt man von Caroline Delieutraz und ein zusätzliches Paar Augen von Ramen Polanski. Zu Daten wird das Gesicht durch den Filter "Bodies Data"“ von Soliman Lopez


Die Französin Ines Marzat, auf Instagram @ines.alpha, versteht sich als 3D Make-up Artist, sie hat bereits Filter für Brands wie Nike entworfen. Von ihr möchte ich wissen, wie sie sich die Popularität von AR-Filtern erklärt. Wir skypen. Menschen hatten schon immer das Bedürfnis sich zu verändern, sagt sie, dafür greifen sie zu Make-up oder gehen zum Schönheitschirurgen, heute nutzen sie außerdem Snapchat- und Instagram-Filter. Das Gesicht ist das Erste, was Menschen voneinander in den sozialen Medien sehen, deshalb die obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Gesicht. Sie selbst kam zu den Filtern, weil sie den Zugang zu ihrem 3D Make-up erleichtern wollte. Menschen zeigen sich mit Filtern, glaubt sie, weil sie gesehen werden wollen und weil sie einzigartig sein wollen. Sie sind damit so individuell wie Hipster, die weiße oder schwarze T-Shirts tragen, aber das macht nichts. Online habe man eine zweite Persönlichkeit, mit Filtern lasse sich die digitale Identität erweitern.

Kunstinstitutionen haben sehr schnell begriffen, dass hier wieder etwas Neues passiert. In der Londoner Tate fand Anfang April der ganztägige Workshop "Lives of Net Art" mit dem Programmpunkt "Face-Up" statt, eine kleine Ausstellung mit Gesichtsfiltern kuratiert von Zaiba Jabbar, der Gründerin von Hervisions, einer multidisziplinären digitalen Plattform. In Paris wurden vergangene Woche im Rahmen der Veranstaltung "#HomoInstagramus" Selfies mit Filtern von den Künstlern Johanna Jaskowska, Ines Marzat, Andy Picci und Soliman Lopez von der Pariser Galerie EP7 unter anderem deren digitale Ausstellungsfläche im Stadtraum geworfen. Per Hashtag konnte das eigen Selfie für die Schau eingereicht werden. Wenige Tage zuvor ging in Paris die Gruppenausstellung „Influencers“ in der Galerie Hussenot kuratiert von Ben Elliot zu Ende, auch hier war Johanna Jaskowska mit ihren AR-Filtern vertreten. 


Was ist so aufregend an AR-Filtern? Während durch Selfies der Blick in den Spiegel öffentlich geteilt wird (Nathan Jurgenson), laden Selfies mit AR-Filtern in die Umkleidekabine ein. Selfies waren bisher meist eine Statusmitteilung in den sozialen Medien, ich war hier, ich habe dies und das gemacht, ich habe mich so und so gefühlt. AR-Filter brauchen das Format Video, damit ihre Funktionalität vorgeführt werden kann. Sie wollen angezogen und vorgeführt werden.

Der Social-Media-Theoretiker Nathan Jurgenson hat mit "The Social Photo: On Photography and Social Media" aktuell ein beeindruckendes Buch vorgelegt, in dem er immer wieder auch das Selfie als neue Kulturtechnik streift. Die Verschiebung vom Medium Foto zum Video in den sozialen Medien kann er zum Ende derweil nur als Ausblick anreißen, weil sich diese Verschiebung in ihrer Tragweite gerade erst andeutet. Er schreibt: "Der Stillstand in einem Bild betont seine performative Qualität; es zeigt einen entscheidenden Moment – einen Moment, der kontrolliert, kalkuliert und geformt wurde, um eine bestimmte Botschaft zu übermitteln. Nicht länger als Standard, sondern als Entscheidung, hebt der Stillstand hervor, dass dieses Dokument ein Dokument ist. Weil mehr von einem Moment eingefangen werden kann, mehr Details, mehr sensorische Informationen, scheinen Social Videos weniger bestimmt zu sein und können deshalb mehr als die Erfahrung gelesen werden, die um ihrer selbst willen geteilt wurde."

Während ich mich bisher für Selfies als Statusmeldungen nicht erwärmen konnte, kann ich viel Zeit damit zubringen, AR-Filter anzuprobieren. Ich fühle mich dann ein bisschen wie eine Freundin, die gern in den Store von Acne geht und sich dort in der Umkleidekabine in verschiedenen Outfits fotografiert. Und wenn man AR-Filter trägt, verhält man sich tatsächlich wie beim Outfit-Check in der Umkleidekabine. Wie kommt der Filter am besten zum Tragen? Man dreht und wendet das Gesicht, überprüft, was der Filter kann und ob er einem steht.

Künstler reagieren derweil schon auf die neue Welle der Selbstbespiegelung. Die Filter des Künstlers Andy Picci heißen beispielsweise "Self-Centred", "Fame" und "Behind the Mask". Und dann fliegt ein Smartphone vor dem eigenen Gesicht umher, auf dem ein Sticker mit der Aufschrift klebt: "Social Media Seriously Harms Your Mental Health". Das wissen wir alle längst, Studien belegen es immer wieder – und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wird besonders laut geklatscht, wenn eine Horde Smartphones um meinen Kopf herumfliegt und ich nicht weiß, wohin ich schauen soll. 


Innerhalb von 90 Minuten hatte mein Selfie knapp 10.000 Views. Klar, das ist nicht viel im Vergleich zu Kim Kardashian und Caro Daur, aber doch weit mehr als ein Foto von einer traurigen Katze auf meinem Instagram-Account angesehen wird. Tavi Gevinson, Modebloggerin und Gründerin von "Rookie"“, hat übrigens kürzlich unter dem Hashtag #myalgorithmjourney überprüft, ob ihre These stimmt, dass der Algorithmus Gesichter und Körper bevorzugt. Also schlüpfte sie in diverse Tierkostüme, lief mal herum wie ein Frosch, mal wie ein Hase usf. Von ihren Followern wurde sie gefragt, ob sie den Verstand verloren habe. Ihre Antwort: Die Generation der Babyboomer, sagt sie, habe sich auf Roadtrips quer durch das Land selbst verloren und wiedergefunden, heute verliere und finde man sich selbst, indem man mit seiner personal brand experimentiere.


Brands haben das längst erkannt. Carlings hat beispielsweise letztes Jahr eine digitale Kollektion auf den Markt gebracht. Es gibt Hosen, T-Shirts und Jacken, Kosten: 20-30 Euro. Man kauft ein Teil, schickt ein Foto hin und bekommt ein Foto zum Teilen in den sozialen Medien zurück. Das Foto zeigt einen dann beispielsweise in der Jacke "Cloud Puffer".

Digitale Identitäten und das Medium Bild sind im Zeitalter sozialer Medien eh schon flüssig und flexibel, durch AR-Filter werden digitale Identitäten noch flüssiger und flexibler. Ich kann heute Cyborg sein, übermorgen ein Gesichtstattoo tragen und morgens niedlich mit meinen Hundeohren in eine Kamera wackeln. Und alles verschwindet nach 24 Stunden wieder wie ein peinliches Party-Outfit.