Anu Põder im Museum Susch

Eine Erfahrung des Feststeckens

Die polnische Milliardärin Grazyna Kulczyk hat ein sehr kleines Engadiner Dorf auf die internationale Kunstkarte gesetzt. Nun zeigt ihr Muszem Such eine eindringliche Retrospektive der estnischen Künstlerin Anu Põder

Teile eines mittelalterlichen Klosters und eine alte Brauerei im Schweizer Engadin hat die Mäzenin Grazyna Kulczyk zu einem großartigen Kunstmuseum verbunden. Weil ihr der Raum zu klein erschien, wies sie an, tonnenweise Gestein aus dem Alpenfels herauszusprengen. Dann wünschte sie sich eine zehn Meter hohe Skulptur von Not Vital auf die Wiese über ihrem Museum in Susch. Also ließ sie den 29 Tonnen schweren Monolith aus toskanischem Carrara-Marmor fitzcarraldohaft durch die Alpen herbeischleppen.

Diese Frau, die alle Mittel hat und entschlossen ist, alles möglich zu machen, zeigt nun die Werke einer Frau, die mit einfachsten Materialien eine Erfahrung des Feststeckens formuliert. Die Estin Anu Põder (1947-2013) hat ihre Skulpturen und Assemblagen aus Leinen von Kartoffelsäcken gefertigt, aus Wachs, Leder, ausrangierten Linoleumböden, Stoff, Plastik, Holz und Düngersäcken, mit von mehreren Generationen getragenen Winterjacken, Seife und Hühnerdraht.

Im sogenannten estnischen "Bronzezeitalter" setzte die offizielle Kunst der Sowjet-Ära auf monumentale Skulpturen gesunder, in die gloriose Zukunft blickender Menschen. Dafür nutzte sie Granit und Bronze, schwere solide Stoffe für die Ewigkeit. Põder experimentierte mit als unkünstlerisch empfundenen Materialien aus dem Alltag von Frauen. Viele sind weich, oft schwingen Krankheit und Tod in ihnen mit. Einige hat ihr Bruder, ein Arzt im Krankenhaus, für sie abgezweigt. Orthopädisches Plastik etwa, das sie im heißen Wasser ihrer Badewanne wärmte, um es dann mit der Hilfe ihrer drei kleinen Töchter zu formen. 

Material mit Verfallsdatum

Gerne griff sie zu Material, das einmal Verfallserscheinungen aufweisen würde. Die Seife etwa, die ihre Großmutter aus dem Schmalz geschlachteter Schweine gemacht hatte, bekam mit der Zeit Sprünge und Risse. Auch Fett hat sie für ein Werk benutzt. Ob sie Joseph Beuys kannte, wisse man nicht, vermutlich aber nicht, sagt die Kuratorin der Schau, Cecilia Alemani, die drei ihrer Werke auf ihrer Venedig-Biennale gezeigt hatteDenn im abgeschotteten Estland hätte Põder, ausgebildete Bildhauerin an der Estnischen Kunstakademie, an der sie später auch lehrte, zum internationalen Kunstgeschehen kaum Zugang gehabt.

Die Ausstellung "Space For My Body" erzählt vom Weggesperrtsein, von Zerstückelung und Amputation und davon, wie es sich anfühlt, als Frau und als Künstlerin hinter dem Eisernen Vorhang zu leben. 1986 lässt Põder aus einem schräg angeschnittenen Torso mit makelloser rosa Plastikhaut gewrungenes Sackleinen quellen, verfleckt wie verwesende Innereien. 

"Traveller" heißt eine Frauenfigur aus Gips von 1978. Sie sitzt mit einem Koffer auf dem Schoß ohne Sitzmöbel da, wie selbst zum Stuhl erstarrt. Mit geschlossenen Augen scheint sie auf ihre Abreise zu warten, in einem Land, aus dem Ausreisen nicht möglich war. 1983 verschränkt Põder zwei zerfurchte, geschunden aussehende Stoffwürste miteinander, mit Tauen geknebelt bis zur Bewegungsunfähigkeit.

Ein endloser Trauerflor

40 Werke aus den Jahren 1978 bis 2012, fast alle noch existierenden Arbeiten Põders, sind im Muzeum Susch ausgestellt. Sie kommen aus den Sammlungen des Kunstmuseums Tartu, dem Estnischen Kunstmuseum in Tallinn und dem Nachlass der Künstlerin. Bisher haben nur einzelne Werke von Põder Estland verlassen, und das sehr selten. Es ist die größte Retrospektive der Bildhauerin außerhalb ihrer Heimat. Das Muzeum Susch widmet sich schon per Konzept ausschließlich Avantgarde-Künstlerinnen, die missverstanden, oder wie Põder, übersehen wurden.

Ihre experimentelle Position fand im "Boys Club" der Kunst vor und nach der Sowjet-Zeit wenig Beachtung. Von ihren meist männlichen Künstlerkollegen wurde sie oft belächelt, sagt Cecilia Alemani. Das Gefühl der Unsichtbarkeit spricht aus "Long Bag", für das sie eine gesichtslose Frauenfigur in das Ende einer schwarzen Stoffbahn eingenäht hat. 

Wie vor einer langen Schleppe oder einem endlosen Trauerflor in barockem Faltenwurf steht sie da, Braut und Witwe zugleich. Põder hat sie im Stoff verpuppt, atemlos, wie eine vakuumierte Leiche. Auf das Empfinden einer Leerstelle zielt auch die Abwesenheit des Körpers, wenn auf Plastiksäcken oder Gummifolien nur noch eine Silhouette zu sehen ist, ähnlich wie bei Arbeiten von Ana Mendieta.

Die Frau bleibt eine Gefangene

Auch Hans Bellmers Puppen oder Louise Bourgeois' hängende Figur in "Cell XXVI" klingen an, immer wieder traktiert oder transformiert die Künstlerin den weiblichen Körper. Zwei Figuren aus Stoff hat sie Arme und Beine schneckenartig eingerollt, wie zu einem extremen Anti-Manspreading. Metamorphose, ähnlich Ovids Daphne, als Symptom der Ausweglosigkeit? 

Brutal ist auch, wenn sie aufgeblasene Sexpuppen ("Tested Profit. Rubber Dolls", 1999) mit einem Zementblock auf der dünnen Gummihaut fixiert, auf allen Vieren, zwischen Sexstellung und dem vergeblichen Versuch, wegzukriechen. Mit den Sexshops hat der Kapitalismus den kommerzialisierten weiblichen Körper nach Estland gebracht. Bei Põder bleibt die Frau eine Gefangene.