In den 1970er-Jahren wirbelte das Team von Borussia Mönchengladbach mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Eleganz und jugendlichem Ungestüm über das Fußballparkett. Damals entstand der (bis heute gebräuchliche) Name "Fohlen-Elf". Fünf Meistertitel, drei DFB-Pokalsiege und zwei Triumphe auf europäischer Ebene wanderten in dieser goldenen Ära an den linken Niederrhein. Und Borussia-Spielmacher Günter Netzer sorgte als erster Popstar des Fußballs auch außerhalb des Platzes für Furore.
Glanzvolle Tage. Die Gegenwart sieht sportlich trüber aus. Gleichwohl bekennen sich rund 100.000 Mitglieder zu Schwarz, Weiß und Grün – die Mönchengladbacher Borussia ist damit der zehntgrößte Sportverein in Deutschland. Durch dick und dünn mit ihrer derzeit im Bundesliga-Mittelmaß stagnierenden Mannschaft gehen vor allem die Fans. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil stammen sie aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Die leidenschaftlichsten Anhänger, die Ultras, verpassen keinen Auswärtsauftritt und versammeln sich bei jedem Heimspiel in der Nordkurve des Borussia-Parks. Mit Schlachtrufen und eingängigen Liedern peitschen sie ihr Team lautstark nach vorn: "Ja, wir schwören Stein und Bein / Auf die Elf vom Niederrhein", so lautet die populärste Zeile.
Akustischer Flankenschutz
Nun erhalten Sie akustischen Flankenschutz von unerwarteter Seite: Ari Benjamin Meyers, Sound Artist und Performance-Künstler, krönt sein dreiteiliges Projekt "Kunsthalle for Music", das er auf Einladung des Museums Abteiberg realisiert hat, mit einer Hymne auf den Fußball. Präziser: auf die Fans, die Borussia Mönchengladbach in guten wie in schlechten Tagen den Rücken stärken.
Dazu gehört der Speditionskaufmann Stefan Radermacher – Borussia ist "seine erste Liebe und seine zweite Religion". Oder Andreas Beckmann, Maschinenführer im Bereich der Gummi-Aufbereitung, der sein Verhältnis zum Club als "Herzensangelegenheit" definiert. Oder die kaufmännische Angestellte Andrea Rieger – für sie bedeutet der Verein mit der Raute "Gemeinschaft, Freude, Frust, Leid, Glück, Enttäuschung, Verlässlichkeit, Stolz, Hoffnung – einfach Familie".
Sie und zahlreiche andere Anhänger wirkten im vergangenen November beim Projekt "Hymnus (Fankurve)" mit; angesiedelt ist es an der Schnittstelle von Fußball, Musik und Multimedia-Kunst. Eigentlich erstaunlich, denn Meyers, der New Yorker, der seit Ende der 1990er-Jahre in Berlin lebt, hatte mit dem runden Leder zuvor kaum Berührungspunkte. Doch bei der Recherche vor Ort wurde dem Künstler, der seit kurzem als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf lehrt, schnell klar: Der 1900 gegründete Traditionsverein Borussia Mönchengladbach ist elementarer Bestandteil der städtischen DNA.
Raus aus der bubble
Deshalb widmete er den dritten Akt seiner "Kunsthalle for Music" den ruppig-rauen Liebeserklärungen des Borussia-Chores der Kuttenträger. "Dass diese Hardcore-Fans so eine Show abliefern, also wirklich mit Choreografie, mit Musik, das hat mich total fasziniert", sagt Meyers. Und stichelt gegen den tendenziell abgehobenen Kunstbetrieb: "Es ist wichtig, dass wir aus unserer bubble herauskommen. Ohne dieses Projekt würde ich nie mit diesen Menschen Kontakt haben."
Komponist, Pianist, Dirigent, bildender Künstler – und nun auch noch Borussia-Mönchengladbach-Experte und inoffizieller Fanbeauftragter auf Zeit: Ari Benjamin Meyers ist ein Künstler mit vielen Talenten. Was macht Musik mit den Menschen (womit sowohl die Interpreten als auch die Zuhörer gemeint sind)? Welche Rolle spielen Instrumente, Partituren oder Konzertsituationen als Medium der Kommunikation?
Solche Fragen liegen seiner künstlerischen Arbeit zugrunde. "Musik", bedauert Meyers, "begegnet uns heute vor allem als etwas, das wir konsumieren, reduziert, fein säuberlich abgepackt, in der Distanz einer Aufnahme oder auf einer Bühne. Doch beinahe ihre ganze Geschichte über war Musik nur dort, wo man sie selbst spielte. Musik war in ihrer Definition: live, sozial und räumlich."
Wenn die Seele brennt
Sieben Hymnen, von den Fans gesungen, von Ari Benjamin Meyers dirigiert, verschaffen diesem Ursprung erneut Geltung: zum einen klassische Fansongs – beispielsweise das "Borussenlied", "Die Elf vom Niederrhein" oder "Die Seele brennt" –, zum anderen die von Meyers komponierte Hymne "Die MG Elf". Nach dem Auftakt der Trilogie, einem Performance-Abend im Skulpturengarten des Museums (2022), und der 2024 folgenden Live-Musik-Ausstellung im Abteiberg haben Meyers, Museumsdirektorin Susanne Titz und Co-Kurator Gian Marco Hölk das Finale nun über sieben Schauplätze in der ganzen Stadt verteilt.
Eine Ausstellung im Museum vereint Leuchtkästen mit Soundstationen, wo man sämtliche Gesänge über Kopfhörer hören kann, mit einem Film von Linus Kaufhold, der das Making-of der Produktion dokumentiert. Derweil ist die Musik an den Aufführungsorten über QR-Codes abrufbar. Die Tour entlang der Stationen von "Hymnus (Fankurve)" gleicht einer Prozession, die Glanz und Elend der 270.000-Einwohner-Stadt Mönchengladbach vergegenwärtigt.
Vorzeige-Adressen wie die Kaiser-Friedrich-Halle oder das schicke Wohngebiet in der Senke des ehemaligen Stadions am Bökelberg sind ebenso vertreten wie urbane Schmuddelecken und Sorgenkinder. Besonders krass: das seit Jahrzehnten leerstehende Haus Westland gegenüber vom Bahnhof. Dessen rückwärtige Laubengänge, wo Graffiti die Verwahrlosung nur notdürftig kaschieren, dienten als Bühne des Fangesangs.
Notation auf Fanschal
In ironischer Anspielung auf Schönbergs Zwölftonmusik spricht der Künstler, der in der Fluxus-Nachfolge eines John Cage steht, bei seiner aus elf Noten bestehenden Kurzkomposition von "Elftonmusik". Notiert wird die auf einem Fanschal, den man für 25 Euro im Fanshop von Borussia kaufen kann. Den minimalistischen Hymnentext "Wir sind die Elf von Mön – chen – glad – bach! Ja!" steuerte Evan Hugo Tepest bei – der Berliner Autor und Performance-Künstler schrieb außerdem Gedichte, bei denen die literarische Technik Erasure Poetry Anwendung fand.
Mit den martialischen Schlachtgesängen der Fans, die der Arena einheizen, haben solche subtilen Parallel-Aktionen kaum eine Schnittmenge. Was bei dem – durch und durch von Sympathie getragenen – Hymnus auf die Fankurve weitgehend ausgeblendet wird, sind die unberechenbare Dynamik und das destruktive Potenzial der Ultras. Ein Paradebeispiel für "Masse und Macht", wie sie von Elias Canetti analysiert wurde.
Im Borussia-Park, wo der populäre Stadionsprecher Torsten "Knippi" Knippertz für das Kunstprojekt die neue Hymne "Die MG Elf" intoniert hat, kann man alle zwei Wochen erleben, wie die Arena klanglich erbebt, wenn die Ultras auf die Pauke hauen; entweder voller Euphorie, weil die Mannschaft ein Tor geschossen hat, oder voller Frust, weil das Team hinter den hochgesteckten Erwartungen der Anhänger zurückbleibt. Im Vergleich zu diesem Hexenkessel wirken die Gesänge, die Ari Benjamin Meyers mit den Fans aufgenommen hat, stellenweise so lammfromm wie Choräle. Ein weiterer Beleg für die alte Fußball-Weisheit "Die Wahrheit ist auf dem Platz".