"Bei Charakteren wie Ihren Töchtern wird mein Unterricht ihnen nicht nur kleine Talente zum Vergnügen vermitteln, sondern sie werden Maler werden. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet?", schreibt Joseph Guichard (1806-1880), Zeichenlehrer von Berthe und Edma Morisot, an deren Mutter: "In Ihrem großbürgerlichen Milieu wird das eine Revolution sein, ich würde fast sagen, eine Katastrophe. Sind Sie sicher, dass Sie niemals die Kunst verfluchen werden, die, sobald sie in dieses so respektabel friedliche Haus eingezogen ist, zur alleinigen Herrscherin über das Schicksal Ihrer beiden Kinder wird?"
Dieser Brief erreichte Berthe und Edmas Mutter zwischen 1857 und 1860. Der Name der Impressionistin Berthe Morisot ist mittlerweile glücklicherweise einer, den die Kunstwelt kennt und verehrt. Doch welches Umfeld umgab sie? Welche Rolle spielte ihre Schwester Edma und später ihre Tochter Julie? Und wie entwickelte sich die schwesterliche Beziehung nachdem, wie im Brief beschrieben, "die Kunst in das Haus der Morisots eingezogen war"? Diesen Fragen widmet sich die Ausstellung "Impression, Morisot" im Palazzo Ducale in Genua. Sie legt den Fokus auf das weibliche künstlerische Umfeld ihrer Protagonistin, das neben ihren bekannten Freundschaften zu den Malerstars Renoir, Manet und Degas etwas unterging.
Edma Morisot wird am 13. Dezember 1839 geboren, ihre zwei Jahre jüngere Schwester Berthe am 14. Januar 1841. Vielleicht muss vorangestellt werden: Die Schwestern sind in wohlhabendem Hause aufgewachsen und waren deshalb nicht auf Verkäufe ihrer Werke angewiesen. Auch die künstlerischen Kreise, in denen die Eltern verkehrten, waren hilfreich. Und ja, sie hatten Dank ihres zusätzlichen Zeichenunterrichtes Voraussetzungen, von denen viele angehende Künstler und insbesondere Künstlerinnen zu ihren Lebzeiten nur träumen konnten. Aber darum soll es hier jetzt nicht gehen.
"Denk daran, dass es traurig ist, allein zu sein …"
Berthe und Edma wachsen in Bourges und Valenciennes auf und ziehen 1851 mit ihrer Familie nach Paris. Während des gemeinsamen Kunstunterrichts besuchen die Schwestern regelmäßig den Louvre, um die großen Meister zu studieren. Die beiden verband eine enge Beziehung, die durch die gemeinsame Leidenschaft zur Malerei noch gestärkt wurde. Bei den Abendgesellschaften, die die Mutter Marie Cornélie Thomas veranstaltete, begegneten Berthe und Edma vielen Kulturpersönlichkeiten ihrer Zeit.
1868 stellt Fantin-Latour den beiden Schwestern dann Édouard Manet vor, der zu dieser Zeit schon große Erfolge feierte. Aus dieser Begegnung sollte eine enge Freundschaft wachsen. Auch die Karriere der Morisots nimmt Fahrt auf: Gemälde von beiden werden in den folgenden Jahren vom Pariser Salon akzeptiert. 1874 nimmt Berthe Morisot an der ersten Gruppenausstellung der Impressionisten teil, welche unabhängig vom altehrwürdigen Salon (dessen Jury avantgardistische Kunstströmungen eher ablehnte) in den privaten Atelierräumen des Fotografen Nadar stattfand.
Doch die Leben der beiden Geschwister driften formal auseinander. Edma Morisot heiratet 1869 Adolphe Pontillon und wendet sich von der Kunst ab. Dieses Ereignis wird die schwesterliche Beziehung tief prägen. Berthe beschäftigt sich ab diesem Zeitpunkt immer intensiver mit der Dynamik dieser familiären Verbindung.
Die Psychologin Carol Gilligan spricht davon, dass weibliche Identitätsbildung häufig in einem Kontext ständiger Beziehungen stattfindet. Somit kann die Selbstwahrnehmung weiblich gelesener Personen eng mit ihrem sozialen Umfeld verknüpft sein. Gilligan entwickelte daraus den Ansatz der "Care-Ethik". Dieses Verständnis von Verantwortung scheint in Berthe Morisots Beziehung zu ihrer Schwester Edma eine Rolle gespielt zu haben, und sie prägt Berthes Porträtserie von Edma in den 1870er-Jahren. Auch die Beziehung zu ihrer Tochter Julie trägt Spuren dieses Ansatzes. "Denk daran, dass es traurig ist, allein zu sein ... die Frau hat ein immenses Bedürfnis nach Zuneigung. Sich in sich selbst zurückzuziehen, bedeutet für sie, das Unmögliche zu versuchen", schreibt Berthe am 19. März 1869 an Edma.
Kein Platz für den männlichen Blick
Das Werk "Die Schwester der Künstlerin, am Fenster sitzend" (1869) zeigt Edma auf einem altrosa Sessel, entspannt zurückgelehnt. Es scheint, als wäre sie in Gedanken verloren, ohne klar identifizierbaren Gesichtsausdruck spielt sie mit dem Fächer in ihren Händen. Das Fenster ist geöffnet, die Frühlingsluft strömt ins Zimmer. Berthe Morisot malt Edma in einem intimen Moment: weder sitzt sie Modell, noch wirkt das Gemälde in einer anderen Weise gestellt. Da weder Gestik noch Mimik nach traditionellen Maßstäben dieser Zeit ausdrucksstark sind, wird die Anpassung an den male gaze einfach ausradiert, die Figur ist ganz auf sich selbst konzentriert.
Somit gewährt Berthe Morisot auch den Betrachtenden einen persönlichen Einblick in einen privaten Raum, in das Leben zweier Frauen und ihr Schaffen. Es fällt schwer, bei diesem Werk nicht an Virginia Woolfs "A Room of One‘s own" zu denken, in dem die Autorin von der Notwendigkeit schreibt, dass Frauen ein Zimmer für sich brauchen, um sich kreativ und unabhängig auszuleben und zu entwickeln. Auch in Morisots Werken wird ein Raum jenseits des männlichen Blickes geschaffen.
Die schlichte und behutsame Gestik und Mimik findet sich auch in dem Werk "Lesen / La Lecture" 1873 wieder. Edma sitzt auf einer Wiese, links von ihr ein (vielleicht hingeworfener) Regenschirm, dazu wieder der Fächer, den sie schon am Fenster bei sich trug. Trotz der natürlichen Umgebung spielt das Gemälde auf mehr an als nur Berthe Morisots Fähigkeit, Frauen in der Natur zu porträtieren. Es erscheint wie der bewundernde Blick einer kleinen Schwester der großen gegenüber. Edmas Intelligenz (das Lesen eines Buches), die selbstbewusste und lässige Art, sich auf den Boden zu setzen, trotz des weißen Kleides: Das alles ähnelt einer subtilen Rebellion.
Räume ohne Männer
Diese Darstellungen von Edma kann man aus heutiger Sicht als Versuch ansehen, patriarchalen Strukturen etwas entgegenzusetzen, indem Berthe Morisot eine ausschließlich weiblich besetzte Welt zeigt. Die Abwesenheit des Mannes als Zeichen, dass ihm (anders als in der Realität) in der Kunst das Überschreiten der Grenze in einen schwesterlichen Raum nicht gestattet wird.
Soziale Missstände und hierarchische Verhältnisse dieser Zeit finden allerdings auch anders Ausdruck: "Blick auf den Trocadéro" (1872) und "Auf dem Balkon" (1871-72) zeigen weibliche Figuren und versinnbildlichen den gesellschaftlichen Kontext. Bei beiden Werken sticht hervor: Das junge Mädchen wendet sich der Stadt zu, während sich die erwachsenen Frauen von der Ferne abwenden oder den Blick auf das Mädchen richten. Sie wissen um ihren Platz in der Gesellschaft, während die junge Protagonistin träumerisch in ihre Zukunft blickt.
Im Palazzo Ducale in Genua wird unter anderem auch ein Werk von Edma Morisot gezeigt, das früheste bekannte Porträt von Berthe. Es zeigt die Künstlerin mit Palette und Pinsel mit konzentriertem Blick vor ihrer Leinwand stehend. Ein Geben und Nehmen in einem schwesterlichen und künstlerischen Dialog, geprägt von Wertschätzung. Auch finden etliche Gemälde der Kinder um die Morisot-Schwestern ihren Platz; die Töchter Edmas, Jeanne und Blanche Pontillon, und selbstverständlich Julie Manet, die einzige Tochter von Berthe Morisot und Eugène Manet. Den Bruder des Malers Édouard Manet heiratete sie 1874.
Nach Edmas Hochzeit scheint es, als würde Berthe aus den dazugewonnen weiblichen Beziehungen neue Kraft schöpfen und Halt gewinnen. Berthe zeichnet ihre Schwester nun nicht mehr allein, sondern mit ihren Töchtern, wie in "Unter dem Flieder in Manecourt". Sie beschäftigt sich mit intimen Familienszenen, in die sie sich durch das Abbilden ihres Hutes oder ihrer Handschuhe mit einfügt, obwohl sie nicht im Gemälde ist.
Versteckte "Easter Eggs"
Ihre Tochter Julie malt sie mit liebevollem Blick durch ihre gesamte Kindheit hindurch; mal mit einer Puppe im Arm, dann mit ihrem Hund Garmin. Julie mit zehn, Mandoline spielend, und ein Jahr später mit einem Buch. Berthe Morisot schreibt in ihr Tagebuch, sie versuche "etwas von einem vorübergehenden Moment einzufangen. Eine von Julies Eigenheiten, ein Lächeln … nur eines dieser Dinge."
Berthe Morisot bleibt sich in ihrer Technik weitestgehend treu; lockere Pinselstriche, Transparenz, die in Öl besonders schwer herzustellen ist, und die skizzenhaften Details, wie die Gesichter der Kinder. So schreibt Henri Esmond 1880: "Madame Morisot ist der Engel des Unvollendeten, ihre Zeichnung ist nur ein Umriss in einer Fülle des Unbestimmten." Auch wird Berthe selbst im Doppelporträt mit ihrer Tochter in den 1880er-Jahren ein immer wiederkehrendes Sujet.
Was der Ausstellung in Genua eine bezaubernde Vollkommenheit schenkt, sind die Werke Julie Manets (1878-1966). Diese wird sich die Leidenschaft ihrer Mutter zu eigen machen und der Kunst auch ihr Leben widmen - und ein ebenfalls weibliches künstlerisches Umfeld pflegen, beispielsweise im engen Kontakt zur Malerin Jeanne Baudot. Im Palazzo Ducale sind Aquarelle des Hafens von Nizza von der elfjährigen Julie ausgestellt: Kinderzeichnungen, die vor Stolz und Bewunderung ihrer Mutter gegenüber nur so strotzen. Daneben wirken die Werke von Claude Monet und Pierre-August Renoir für einen Augenblick unwichtig.