Christoph Tannert, im Juni 1989 gab es in der Ostberliner Galerie Weißer Elefant die "Permanente Kunstkonferenz". Das war die erste Veranstaltung in der DDR, die Aktionskunst und performative Konzepte innerhalb eines Programms von vier Wochen offensiv thematisierte und versucht hat, den bis dahin geltenden Kanon des "sozialistischen Realismus" zu erweitern. Was war da los?
Eugen Blume und ich hatten zusammen an der Humboldt-Universität Kunstgeschichte studiert. Nach Mitte der 1980er-Jahre haben wir zusammen eine unkommentierte Chronologie performativer Ereignisse in der DDR erarbeitet, nur Daten und Fakten, und in einem kleinen Heftchen veröffentlicht. Weit unter dem offiziellen Level.
Wie das?
Mit einer Druckgenehmigungsnummer des Kunstdiensts der Evangelischen Kirche. Der Verbreitungsradius war entsprechend gering. Als logischer nächster Schritt bot sich an, auf Grundlage dieser Fakten ein Präsentationskonzept zu realisieren. Mit unserer Recherche konnten wir belegen, dass es seit den 1960er-Jahren eine aktionistische und performative Praxis in der DDR gab. Wenngleich es seitens der Funktionäre des DDR-Künstlerverbandes abgelehnt wurde, offizielle Foren dafür zu etablieren. Nichtsdestotrotz gelang es Blume und mir, im Frühjahr 1989 im Rahmen der Vorbereitung der Bezirkskunstausstellung des Berliner Verbandes Bildender Künstler einen Programmentwurf zu erarbeiten, der, wer hätte das gedacht, tatsächlich offiziell wurde. Kolleginnen und Kollegen wie Matthias Flügge, Gabriele Muschter und Barbara Barsch hielten für uns die Hand ins Feuer.
Wo fand das statt?
Freilich nicht im Ausstellungszentrum unter dem Fernsehturm, wo die Bezirkskunstausstellung herkömmlich akademisch in Szene gesetzt wurde, sondern in der Galerie Weißer Elefant in der Almstadtstraße. Damit akzeptierte der Künstlerverband, was seit Jahren von Künstlerinnen und Künstlern der DDR in unterschiedlicher Form längst ausprobiert worden war. Im Rahmen der sogenannten "Permanenten Kunstkonferenz" vom 30. Mai bis 30. Juni 1989 gruppierten wir diverse Präsentationen und Ereignisformen, die gerade praktiziert wurden - also längst nicht alles, was tatsächlich existierte.
Was war dann dort zu sehen?
Selbstverständlich auch die vom Publikum mit Spannung erwarteten Grenzüberschreitungen der "Autoperforationsartisten". Via Lewandowsky, Micha Brendel, Else Gabriel und Rainer Görß waren auf dem Höhepunkt ihrer performativen Ausdruckskraft und stellten sämtliche in der DDR gebräuchlichen Maßstäbe auf den Kopf. Die internationalen Künstler-Verbindungen, insbesondere die in den Westen, mussten wir auf Anordnung "von oben" ausklammern. Wir haben dafür aber eine parallele private Veranstaltungsfläche im Atelier Rot-Grün, dem Studio von Erhard Monden, in der Sredtzkistraße 64 im Prenzlauer Berg etabliert, wo etwa Die Tödliche Doris oder auch Johannes Stüttgen als Vertreter der Free International University und Leiter des Ateliers von Beuys auftraten. Aber auch Künstler wie Georg Dietzler und Andreas Techler, die mit ungewöhnlichen Materialien arbeiteten.
Und das ging?
Alle Künstler reisten mit einem Tagespassierschein aus Westberlin ein. Das war nicht kompliziert. Man hätte in dieser Hinsicht locker mehr machen können. Aber die allgemeine Angst vor Überwachung und Bestrafung paralysierte und hinderte uns, aktiver zu sein. Grundsätzlich ging es uns, im Fahrwasser von Joseph Beuys, um die sichtbare Erweiterung überholter Kunstbegriffe und Normen. Parallel dazu sahen wir Anfang Juni die furchtbaren Fernsehbilder vom Volksaufstand in China. Wir hatten echt Schiss. Und Monate später fiel die Mauer. Das war alles irgendwie unwirklich und unfassbar.
Sie haben häufig an der Schnittstelle von bildender Kunst und Musik Ausstellungen produziert, beispielsweise Anfang der 1990er-Jahre in Dresden "Geniale Dilettanten". Dort waren etwa Die Tödliche Doris von Wolfgang Müller und Käthe Kruse parallel zu Ostberliner Bands wie Ornament und Verbrechen zu sehen. Was stellt man aus, wenn man sich mit Musik beschäftigt?
Es war eine kulturhistorische Ausstellung, die subkulturelle Entwicklungen der 1980er-Jahre im Westen mit ihrem Pendant im Osten zu verzahnen versuchte. Ich war allerdings nur für den Ost-Teil der Ausstellung verantwortlich. Dort habe ich große Fototapeten gezeigt, Programmzettel, Poster, Grafiken, wenige Malereien, unter anderem bemalte Faltrollos vom Coswiger Intermedia-Festival von 1985, Video- und Tonmaterial von legendären Veranstaltungen. Das Restmaterial aus den wilden Ereigniszonen. Darunter viele obskure Musikkassetten, die in kleiner Stückzahl produziert worden waren, hörbar gemacht über MP3-Player. Außerdem Gedichte und Texte junger Dichter, die in der DDR mittels Durchschlagpapier auf Schreibmaschinen vervielfältigt wurden und von Hand zu Hand gingen.
War das auch Kunst?
Es gab in der DDR ja keine öffentlich zugänglichen Kopierer wie heute, und das Internet war noch nicht erfunden. Man war auf sehr persönlichen Kontakt angewiesen. Viele Leute hatten nicht mal einen Telefonanschluss. Wir saßen den Umständen geschuldet häufig in Wohnungen zusammen oder in Cafés und den wenigen Kneipen. Die "Szene" in der DDR war überschaubar, und das Publikum umfasste im Kern ein paar hundert Leute, denen man an den einschlägigen Treffpunkten immer wieder begegnete, egal ob in Ostberlin, Cottbus, Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Halle, Weimar oder Jena.
Welche Unterschiede zwischen den Musikszenen in der geteilten Stadt konnte man beobachten? Und welche Parallelen?
Ich war 1988 das erste Mal für wenige Tage in Westberlin. Das führte zu meinem ersten Kulturschock. Die Unterschiede zwischen West und Ost waren riesig. Das Kulturangebot im Westen war nicht nur im programmatischen Fächer unüberschaubar breit angelegt, sondern auch in Bezug auf die Anzahl der Veranstaltungsorte vielfältiger. Die internationalen Entwicklungen in Pop, Mode, Rockmusik und Kunst wurden aber auch im Osten mitvollzogen - nur unter ganz anderen, viel eingeschränkteren Bedingungen. Als Punk konnte man am Bahnhof Zoo herumlungern, am Alexanderplatz wurde man verhaftet. Einem ideologisch agierenden Gegner, der das Gewaltmonopol besitzt, kannst du in einem von Mauer und Stacheldraht umzäunten Staatsgebilde nicht ausweichen. Diskriminierung im Kapitalismus funktioniert völlig anders, nämlich über Geld. Unbotmäßigkeiten und exotisches Aussehen galten im Osten als anti-sozialistisch. Das bestrafte der Gewahrsamsstaat.
Welche Unterschiede sind Ihnen noch aufgefallen?
Die Subkultur in Westberlin wurde in Stadtmagazinen annonciert. Im Osten waren die illegalen Kulturorte nur auffindbar, wenn man jemanden kannte, der einen hinführte. Aber zum Ende der 1980er-Jahre änderte sich einiges im Osten. Das Verblüffendste war sicherlich, dass ab der Silvesternacht 1986/87 wie aus dem Nichts bei Jugendradio DT64 Indiemusik gespielt wurde, die vorher nicht zu hören war und dann Stück für Stück auch immer mehr Musik von selbstproduzierten Tapes subkultureller Bands. Ein Riesenschritt in Richtung der Einbeziehung der bisher Ausgegrenzten. Andererseits hat genau das zu ziemlichen Irritationen in der "Szene" selbst geführt, und zu einem höheren Grad der Distanzierung.
Inwiefern?
Manche Künstler wurden noch vorsichtiger oder auch kategorischer und versuchten eher, die DDR ganz zu verlassen, als sich von der Staatskultur im Osten einseifen zu lassen. Was heute häufig auch nicht mitgedacht wird: der bauliche Zustand einiger Straßenzüge im Innenstadtbereich. Etwa in Kreuzberg, Neukölln, Moabit, Wedding. In Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Lichtenberg waren die Jahre vor der Wende ähnlich erbärmlich. Verfall, so weit das Auge reichte. Der Fall der Mauer hat auch dem Westen gutgetan, die Stadt als Ganzes dynamisiert und Investorengeld heran gespült.
Was kennzeichnet Ihr Verhältnis bezüglich der Überlappungen zwischen bildender Kunst und Musik?
Ich habe mich bereits in den späten 1970er-Jahren für die Grenzüberschreitungen zwischen bildender Kunst und Klang, Soundexperimenten, Free Jazz, Theater und Bewegungsformen interessiert. Damals passierte viel Neues im Osten. Künstler aus verschiedenen Bereichen erprobten experimentelle Dialogverfahren. Sie trotzten dem künstlerverbandspolitischen Schubkastendenken, solidarisierten sich, strebten gemeinsam nach Abenteuer und Innovation. Den Ordnungshütern kam das verdächtig vor. Insofern stand diese Avantgarde aus Sicht der Staatsschützer in dem Ruf, systemzerstörerisch zu sein. Und die Sehnsucht nach Anderssein und Erneuerung inkludierte selbstverständlich auch immer den Wunsch, rauszukommen aus dem realsozialistischen Schlamassel und die Verhältnisse in der DDR umzubrechen und sie erträglicher, bunter, freier, menschlicher zu gestalten. Das hatten die systemtreuen Blockierer schon richtig verstanden. Die Gründung der polnischen Gewerkschaft Solidarność im Herbst 1980 war ein Vorbote des Umbruchs in Polen und ein Brandbeschleuniger für widerständiges Denken auch in der DDR.
Was war Ihnen dabei wichtig?
Mir war maßgeblich an den Übergängen zu neuen Ufern gelegen, daran, die Dinge in Fluss zu bringen. Schon seit meiner Jugend haben mich die Giftschränke gelockt, verbotene Bücher, Bilder, Songs, die den Gehirnkasten öffneten, oder einen ungeschönten Blick auf die DDR warfen. Das, was die Tugendwächter anfänglich als bürgerlich dekadent oder als "westlichen Schund und Schmutz" bezeichneten. Schon in der Grundschule wurden meine "Micky Maus"-Hefte und die "Bravo" konfisziert, dann Orwells "1984" - oh, ganz böse.
Hatten Sie noch mehr Unerlaubtes?
Einiges kam später doch in die Geschäfte – eine Schallplatte von den Rolling Stones, Bücher von Karl May, Michail Bulgakow, Kafka, der lange Zeit verpönt war, Reiner Kunze, Salingers "Fänger im Roggen" und "On the Road" von Jack Kerouac. Glücklicherweise arbeitete meine Mutter erst im staatlichen Buchhandel, später in einem Antiquariat und versorgte mich mit Schätzen, von denen ich anfangs nur träumen konnte.
Was denn?
Schallplatten mit Rockmusik wurden für 100 Ostmark unter der Hand gekauft, getauscht, auf Tonband überspielt, Rocktexte und Gedichte mit der Hand abgeschrieben und vervielfältigt. Das war eine unglaublich intensive Zeit. Mit Musik, erst Klassik, dann Neue Musik und Jazz, bin ich groß geworden. Ich bekam Klavierstunden mit zehn und habe danach acht Jahre im Dresdner Kreuzchor gesungen – eine unglaubliche Schulung musikalischen Erlebens und elementar für die innere Stabilität. Von 1976 bis 1981 habe ich Kunstwissenschaft in Ostberlin an der Humboldt-Universität studiert. Das war die Zeit von Punk und New Wave, und ich bin kurzzeitig sogar in eine Avantgarde-Jazz-Punk-Band eingestiegen, die sich Teurer denn je nannte und Texte des sprachtrunkenen Leonhard Lorek zu Gehör brachte - "… im Baerenfell am Arsch der Welt / wo pfennigweise Kindergreise / sterben eh der Groschen faellt". Ich musste mich nie verbiegen, um Themenfelder zu finden, die mich reizten. Ich steckte meistens schon drin wie eine Boje im Strom.
Ihr Name fällt immer wieder, wenn man sich mit Leuten unterhält, die in den 1980er-Jahren in der Subkultur der DDR als Schriftsteller, Musiker, bildende Künstler, Theaterleute und Modemacher aktiv waren. Alle schienen eng miteinander verbunden?
Es ist bedauerlich, dass von den Auf- und Umbrüchen dieser Zeit und den ästhetischen Innovationen so wenig berichtet und gezeigt wird. Es gibt nach wie vor zu wenig Informationen über diese Nester der Gegenströmungen. Mittlerweile existieren ein paar Publikationen, aber wenn man so in Westdeutschland herumfragt, wissen die allermeisten Leute aus dem Kunstbetrieb überhaupt nicht, worum es sich eigentlich handelt. Diese Ausstellung, über die wir eingangs gesprochen haben, "Geniale Dilettanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland": Die wurde ab 2016 als Tournee-Ausstellung des Goethe-Instituts um die Welt geschickt und machte auch Station in Dresden. Sie konzentrierte sich ursprünglich, kuratiert von Mathilde Weh, auch nur auf die westdeutschen Stars: Einstürzende Neubauten, Freiwillige Selbstkontrolle, DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft), Der Plan, Palais Schaumburg, Die Tödliche Doris und Mania D. Lediglich Ornament und Verbrechen hatte man als Feigenblatt für den Osten hinzugewählt. Aber weiter reichten die Kenntnisse und Kontakte nicht.
Und dann?
Aus dieser geistigen Unterversorgung entwickelte sich für Dresden der Plan, mindestens ein Dutzend Ostformationen anzudocken. Also habe ich dann die unterschiedlichsten Perspektiven aus dem Hintergrund zur staatsoffiziellen Perspektive gebündelt und nach Dresden gebracht. Darunter echte Außenseiter wie etwa Hans J. Schulze mit Pfff…, Moritz Götze, Matthias Baader Holst, Klaus Hähner-Springmühl und, konstant abseitig, Die Gehirne mit Claus Löser und Florian Merkel, meine Lieblingsformation an der Geräuscherzeugerfront. Das hat schlussendlich ganz gut funktioniert.
Nur ganz gut?
Wir konnten mit der Ausstellung verdeutlichen, dass die in der DDR subkulturell Durchgeglühten sich bis in die Endzeit des Sozialismus nicht haben korrumpieren lassen. Aber, das war die Kehrseite, eben auch nicht in high quality produzieren konnten - und möglicherweise auch nicht wollten. Im Unterschied zu den "Genialen Dilettanten" im Westen waren sie kein Kunstinsider- und Hausbesetzerphänomen mit Plattenvertrag, sondern hatten, auch ohne Vertrieb und TamTam, einen tatsächlich systemunterminierenden Wirkradius. Dem Überwachungsstaat lagen sie nach gesicherter Aktenlage ziemlich im Magen. Sie ließen es krachen, demolierten die Grenzen des guten Geschmacks und machten sich über die volkseigenen Speichellecker lustig.
Mit welchen Folgen?
Das hatte zum Teil harte Konsequenzen: Auftrittsverbote, Überwachung, Verhöre, Aussperrung. Übrigens: der Terminus "Geniale Dilettanten", der ja von Wolfgang Müller von der Tödlichen Doris formuliert wurde, fand im Osten überhaupt keine Anwendung. Man sprach eigentlich immer nur von der "Szene", nicht mal von "Underground". Wolfgang Müllers Merve-Bändchen kursierte zwar, aber die Ostler bezogen ihre Inspirationen eher aus der eigenen Dichterriege, gern von dem viel zu früh verstorbenen Dichter-Anarchisten Bert Papenfuß, bekannt aus dem Torpedokäfer, dem Kaffee Burger und der Kulturspelunke Rumbalotte.