NS-Geschichte der Documenta

"Der Mythos des Neuanfangs kann nicht aufrecht erhalten werden"

Die frühe Documenta war tiefer ins NS-System verstrickt als bisher bekannt. Nun äußern sich Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann und Archiv-Leiter Martin Groh zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte 

Die Documenta hat den Westdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg einen kulturellen Neuanfang ermöglicht. Doch nun wird zunehmend über bisher übersehene oder ignorierte Kontinuitäten mit der NS-Zeit diskutiert. Werner Haftmann, Co-Kurator und Arnold Bodes engster Berater bei den ersten drei Ausstellungen war NSDAP-Mitglied - genau wie mehrere andere wichtige Figuren der frühen Documenta.

Über die Verstrickungen der Ausstellungsmacher und eine Instrumentalisierung der deutschen Moderne auf der D1 im Jahr 1955 wurde unter anderem bei einem Kongress im Deutschen Historischen Museum im Herbst 2019 diskutiert. 2021 plant das DHM dazu außerdem eine Ausstellung. Die Documenta in Kassel will nun die versäumte Aufarbeitung der NS-Historie nachholen und Forschung fördern. Ein Gespräch mit Generaldirektorin Sabine Schorman und dem kommissarischen Leiter des Documenta Archivs Martin Groh.

Frau Schormann, Herr Groh, im Vorwort zum D14-Reader 2017 hat Kurator Adam Szymczyk die Documenta "das Gewissen der zeitgenössischen Kunstwelt" genannt. Würden Sie das nach der Diskussion um den NS-Ballast der frühen Ausstellungen noch so unterschreiben?

Sabine Schormann: Die Documenta Geschichte umfasst ja nicht nur die Documenta 1 bis 3, sondern die documenta 1 bis 14. Die documenta hat immer wieder gezeigt, welch kritisches Potenzial in ihr steckt. Trotzdem ist es absolut notwendig, den Gründungsmythos, der sich entwickelt hat, noch einmal neu anzuschauen und auch zum Teil neu zu bewerten. In einer ungebrochenen Form wird man den Mythos des kompletten Neuanfangs nicht mehr erhalten können. Er hat Kratzer bekommen.

Sie waren beide beim Kongress im Deutschen Historischen Museum in Berlin, auf dem die Documenta als zeitgeschichtliches Phänomen untersucht und auch die NS-Verstrickung der frühen Ausstellungen thematisiert wurde. Was daran war neu für Sie?

Schormann: Wir waren fast vollständig mit unserem Team in Berlin, weil wir mit dem Documenta Archiv auch die geplante Ausstellung zur documenta in Berlin vollumfänglich unterstützen. Das Thema hat uns brennend interessiert, und wir begrüßen dazu unabhängige Forschung. Deshalb haben wir die Initiative von DHM-Präsident Raphael Gross sehr befürwortet.

Martin Groh: Für mich war die NSDAP-Mitgliedschaft von Arnold Bodes Co-Kurator Werner Haftmann tatsächlich neu. Ich wusste, nur dass er in den 30er-Jahren Mitglied der Kunstkommission war, also konnte man sich denken, dass da vielleicht noch mehr sein könnte, aber ich habe meinen Fokus nicht darauf gelegt – und viele andere auch nicht. Was außerdem interessant war, ist die Frage, auf welche Ausstellungstypen die erste Documenta sich bezogen hat, also wo sie historisch herkommt. Das geht zurück in die 20er-Jahre und bis zu den Ehrentafeln aus dem Ersten Weltkrieg. Darüber kann man diskutieren, das sind aber interessante Impulse. Wir wissen spätestens seit der Documenta-Jubiläumsausstellung 2005 in Kassel, dass Haftmann einen großen Einfluss auf die Konzeption hatte, aber als Ausstellungsmacher haben wir eben immer vor allem Bode gesehen. Die anderen sind hinter ihm verschwunden, da wird man jetzt genauer hinschauen.

Schormann: In der jungen Bundesrepublik gibt es ja viele dieser gebrochenen schwierigen Biografien, die man lange nicht hinterfragt hat. Erstaunlich finde ich, dass die Kunstwelt erst so spät damit angefangen hat.

Warum ist das so? Für viele Historiker ist es selbstverständlich, in der Nachkriegszeit von Kontinuitäten des NS-Regimes auszugehen.

Schormann: Vielleicht, weil die Kunst mit ihrem kritischen Anspruch gegenüber der Gegenwart den Splitter im eigenen Auge nicht gesehen hat. Es war sicherlich ein Stück weit naiv, davon auszugehen, dass es eine Institution gibt, die durch und durch 'gut' ist.

Groh: Bei der ersten Documenta 1955 stand das neue und das nie gesehene im Vordergrund. Da hat man nicht darüber nachgedacht, wo die Wurzeln davon zu finden sind. Das kommt erst später.

Schormann: Jetzt wird deutlich, wie bestehendes Ideengut umgedeutet wurde. Man hat sich ja nicht explizit auf die "Entartete-Kunst"-Ausstellung 1937 bezogen, sondern auf die ethnologischen Wurzeln der modernen Kunst, die weit in die Zeit vor dem NS-Regime führen. Man hat damit versucht, sich in die Reihe einer universellen Kunstproduktion zu stellen, die während der Nazi-Zeit unterbrochen war, und nun wieder aufgenommen werden sollte. So hat es sich für Bode dargestellt, der versucht hat, mit der Idee des Dokumentierens die Dinge zu erfassen.

Neben Haftmann waren auch andere Documenta-Organisatoren NSDAP-Mitglieder und zumindest Mitläufer im NS-Regime. Vor diesem Hintergrund erscheint das Berufen aufs Universelle wie eine Entlastungsstrategie, mit der eigene Verstrickungen überdeckt werden sollten.

Schormann: Ja, das fanden auch wir einen wichtigen Aspekt des DHM-Kongresses, der vorher so noch nicht gesehen wurde. Deswegen schätzen wir die Sicht der Historiker, die mit einem anderen Blick auf die Ausstellungsgeschichte schauen.

Sie brauchten also den Impuls von außen?

Groh: Ja. Wir sind zwar auch selbst ein forschendes Archiv. Das soll sich mit der Entwicklung zum Documenta Institut aber noch intensivieren. Herr Professor Gross vom DHM kam auf uns zu, und wir waren sehr angetan vom Vorhaben, die Documenta als zeitgeschichtliches Phänomen zu untersuchen.

Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" plädiert der Historiker Christian Fuhrmeister dafür, dass die Moderne "noch einmal auf die Couch" müsste. Einverstanden?

Schormann: Absolut. Aber er hat auch gesagt, dass nicht die gesamte Moderne umgeschrieben werden muss, sondern dass Teile neu bewertet werden müssen. Darauf wird es hinauslaufen. Das betrifft nicht nur die NS-Zeit, sondern zum Beispiel auch das Erbe des Kolonialismus.

Was wollen Sie als Documenta dazu beitragen?

Wir sehen den Bedarf für mehr Forschung, und deshalb bauen wir zusammen mit der Stadt Kassel, dem Land Hessen Universität Kassel und der Kunsthochschule Kassel ausgehend vom Documenta Archiv das Documenta Institut auf, das unabhängige und interdisziplinäre Forschung ermöglichen soll.  

Das geplante Institut ist aber formal an die Documenta gGmbH angebunden. Ist unabhängige Forschung wirklich inhouse möglich?

Verwaltungstechnisch wird das Institut vorerst unter dem Dach der Documenta gegründet. Die inhaltliche Ausrichtung ist von der Rechtsform allerdings völlig unabhängig. Genau wie die künstlerische Leitung der Documenta inhaltlich völlig autonom ist. Egal, wie das Konstrukt am Ende aussehen wird, Unabhängigkeit der Forschung ist garantiert. Die Documenta hat nicht das Ziel, sich selbst zu erforschen.

Gerade wird in Kassel über den Standort für das Institut gestritten, die Planungen liegen derzeit auf Eis. Sie reden also von Aufarbeitung durch eine Institution, die es noch gar nicht gibt.

Schormann: Die Berufung der "Tenure-Track-Professoren" läuft unabhängig von der Standortfrage und steht kurz bevor. Die Documenta-Professorin an der Kunsthochschule ist im Amt. Uns hat nur sozusagen die Entwicklung überholt. Durch den DHM-Kongress und die dort geplante Ausstellung 2021 sind die Fragen drängend geworden, was ja auch gut ist. Jetzt tun wir alles, damit hier im Archiv unabhängig gearbeitet werden kann. Natürlich könnten wir noch zusätzlich externe Forscher beauftragen, aber durch das DHM wird gerade schon wichtige Arbeit getan. Wenn sich herausstellt, dass die Professuren am documenta Institut andere Schwerpunkte setzen – diese Möglichkeit gibt es natürlich auch durch die Freiheit der Forschung – müssten wir nochmal neu über externe Vergabe nachdenken.

 In der neuen Dauerausstellung zur Documenta in der Neuen Galerie in Kassel sieht man noch nichts von den aktuellen Erkenntnissen. Im Raum zur ersten Documenta steht unkommentiert ein Werner-Haftmann-Zitat an der Wand und die Ausstellung wird als Dokument der „Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur“ bezeichnet. Wäre hier nicht Differenzierung nötig?

Schormann: Zweck der Ausstellung ist zunächst, in Kassel überhaupt erstmals einen Anlaufpunkt zu bieten, um sich einen kompakten Überblick über die documenta Geschichte verschaffen zu können. Das hat bisher gefehlt. Die Vertiefung der Thematik soll im sogenannten "Lab" und durch Sonderausstellungen passieren. Dann aber auf der Basis gesicherter Erkenntnisse.

Groh: Wir wollen das aber aufgreifen.

Auf dem Wandtext im Raum zur ersten Documenta steht unter anderem, dass die Ausstellung der "kulturelle Neubeginn einer demokratischen Gesellschaft" sein sollte. Ist das nicht genau der Mythos, der gerade bröckelt?

Groh: Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir auch die Dauerausstellung zwischendrin ändern oder anpassen können. Das wäre so ein Punkt, wo das möglich ist. Ich denke, dass auch die DHM-Ausstellung hier noch neue Erkenntnisse bringen wird.

Gibt es Hemmungen, den historischen Ballast der Documenta zu betrachten, weil sie für Kassel so eine wichtige Marke ist?

Groh: Das würde ich nicht so sagen. Vor einigen Jahren wurde bekannt, dass der ehemalige Kasseler Oberbürgermeister und Documenta-Aufsichtsratsvorsitzende Karl Branner ein überzeugter Nazi war. Damit musste man sich auseinandersetzen und hat das auch getan. Die Geschichte, auch die Stadtgeschichte Kassels, spielt bei der Documenta eine wichtige Rolle. Es gehört dazu, dass die Stadtgesellschaft darauf reagiert, und das wird auch in Zukunft so sein.

Von vielen Beteiligten der frühen Documenta gibt es noch keine umfassenden Biografien. Da liegt der Verdacht nahe, dass noch viel mehr ans Licht kommt …

Schormann: Das ist durchaus möglich. Es wird Zeit brauchen, das aufzuarbeiten. Und in unserem Archiv sind auch nicht alle Unterlagen vorhanden, die sind auf verschiedenste Archive bundesweit verteilt.

Groh: Wir haben hier natürlich den Bode-Nachlass, der zentral ist, aber auch dort ist eine Lücke von 1933 bis 1945. Vieles ist auch im Krieg zerstört worden, die Kasseler Wohnung von Bode ist abgebrannt. Auch bei ihm sind Fragen offen. Er war SPD-Mitglied, aber war er das auch noch während der NS-Zeit? Er wurde 1933 von den Nazis wegen Kulturbolschewismus entlassen. Aber was danach kam, wissen wir auch nicht genau. Man kann sich schon wundern. Bode hatte sehr viele konträre Ansätze zu Werner Haftmann, und trotzdem haben sie sich drei Ausstellungen lang verstanden und ergänzt.

Ist es eine Aufgabe des Archivs, die Nachlässe an einem Ort zusammenzuziehen, oder müssen die Wissenschaftlerinnen dorthin gehen, wo die Unterlagen sind?

Groh: Sicherlich letzteres. Wir nehmen weiter Vor- und Nachlässe an und schauen, wer uns noch Material von künstlerischen Leitern und Co-Kuratoren geben kann. Unsere Aufgabe als Archiv ist es, Forschung anzustoßen und die Materialien dafür bereitzuhalten – nicht, die Materialien zusammenzuziehen. Das könnte dann eher über Gaststipendiaten funktionieren, die auch in anderen Archiven arbeiten.

Haben Sie mit den D15-Kuratoren von Ruangrupa über das Thema NS und Documenta gesprochen?

Schormann: Ja. Farid Rakun, der mit auf dem DHM-Kongress war, hat erzählt, dass es für ihn extrem wichtig war, zu erfahren, welche Last auf den Schultern der Documenta liegt. Aber er hat auch gesagt, dass es noch andere Geschichten auf der Welt gibt, die es zu erzählen gilt, beispielsweise im Kolonialismus gelagert. Insofern ist es ein wichtiges Thema zwischen uns, aber es sollte der künstlerischen Freiheit überlassen bleiben, ob und wie sie sich in ihrer Ausstellung damit beschäftigen. 

Groh: Es gab ja immer wieder künstlerische Leiter und auch Künstler, die sich mit der Geschichte der Documenta und auch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben.

Aber der "Stunde-Null-Mythos" der Documenta blieb trotzdem ziemlich intakt.

Schormann: Es wurden immer wieder die sehr langen Wurzeln des Faschismus thematisiert, die uns heute ja immer noch beschäftigen. Aber es ist nie wirklich systematisiert worden. Die Documenta wurde oft als Einzelthema betrachtet. Jede Ausgabe erfindet sich neu, jede künstlerische Leitung hat wieder die Chance, ihre eigenen Schwerpunkte zu setzen, was ja auch das Besondere ausmacht. Deshalb hat man sich vielleicht nicht so sehr mit dem Kontinuum und der Historizität beschäftigt. Das muss jetzt passieren.