GASAG Kunstpreis

Julian Charrière im Flow

Für seine Ausstellung in der Berlinischen Galerie tauchte Julian Charrière am Bikini Atoll. Nun bekommt er den GASAG Kunstpreis

In früheren Jahrhunderten wäre Julian Charrière wahrscheinlich ein Entdecker geworden, so ausdauernd, wie der 1987 in der französischen Schweiz geborene Künstler um die Welt reist. Was er bei seinen Expeditionen ins ewige Eis oder in die verstrahlten Atombomben-Testgelände von Kasachstan sucht, ist aber keine unberührte Natur: Charrières Kunst spiegelt die Epoche des Anthropozäns, er zeigt uns eine Welt, die vom Menschen bis in den letzten Winkel beeinflusst und verändert wird. Eine seiner weitesten Reisen brachte ihn im Dezember 2016 zum Bikini-Atoll, einer Inselgruppe im Pazifik, drei Tagesreisen in einem alten Perlentaucher-Boot von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt. Zwischen 1946 und 1958 zündeten die Amerikaner hier Atombomben, verwandelten Inseln in riesige Krater und versenkten flottenweise ausgediente Kriegsschiffe, deren Reste nun am Boden des radioaktiv verseuchten Meers liegen. Diese apokalyptische Unterwasserlandschaft wurde für Julian Charrière zum Ausgangspunkt einer Serie von Filmen, Fotografien und Installationen, die er in seiner Ausstellung zum GASAG Kunstpreis in der Berlinischen Galerie zeigt. Der Gang durch die Ausstellung soll sich anfühlen wie ein Tauchgang in die Unterwelt des Meers.

Julian Charrière, Sie sind am Bikini-Atoll bis zu 50 Meter tief getaucht und haben versunkene Schiffe gefilmt. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Für mich ist Tauchen und das Erkunden von Unterwasserwelten zu einer Art Denkraum geworden. Interessant ist zunächst die darwinsche Perspektive: Vom aufrechten Gang geht es zum Liegen im Wasser, als würde man die Millionen Jahre der Evolutionsgeschichte in zwei Minuten rückwärts absolvieren. Im Wasser ist der Körper dann viel spürbarer mit seiner Umgebung verbunden als an Land. Da das Wasser ungefähr die gleiche Dichte hat wie der menschliche Körper, bewegt jede Bewegung des Körpers die gleiche Masse an Wasser, man beeinflusst die Umgebung direkt und fühlt sich mit ihr verbunden. Das ist an der Luft zwar auch so, aber es ist viel schwieriger wahrzunehmen.

Der Mensch beeinflusst die Umgebung – das wird am Atomtestgelände am Bikini-Atoll erst recht offensichtlich. Was sonst hat Ihnen das Tauchen vor Augen geführt?
Die Abhängigkeit des Menschen vom technischen Exoskelett, all den Erweiterungen des Körpers, ohne die wir nicht überleben würden. Als solche Erweiterungen registrieren wir unsere Smartphones und auch den Pullover, den wir brauchen, wenn es kalt wird. Aber der technologische Apparat, der uns ansonsten am Leben erhält, die Architektur, Strom, das Abwassersystem, all das ist zu groß, als dass wir es überhaupt noch bemerken würden. Unter Wasser dagegen ist man abhängig von zwei Flaschen mit Gas, von dem sogenannten Oktopus, den man sich in den Mund steckt, und von den Tauchcomputern. Das technische Exoskelett ist plötzlich so komprimiert, dass man sich gefangen und davon bedrängt fühlt. Im Wasser ist man nie stabil, man schwebt, man driftet. Und wenn einen die Strömung ergreift, ist man völlig hilflos, jegliche Art der Kontrolle geht verloren.

Was haben Sie von der Unterwasserwelt mitgenommen?
Wenn man taucht, dann redet man über Atmosphären, um den Druck zu definieren. Die erste Atmosphäre ist die Luft, die zweite zehn Meter unter Wasser, die dritte 20 Meter und so weiter. Mir scheint, dass in unserer Kultur auch die Dinge unter solchen Atmosphären liegen. Jedes Mal, wenn man ein Objekt beschreibt, ist es als würde man eine Atmosphäre darüberstülpen. Und am Ende kann man unter all den Informationen und Interpretationen gar nicht mehr zur Essenz der Dinge vordringen. Deshalb wollte ich tauchen: um wieder an die Essenz der Dinge zu kommen. 

Kann man der Natur überhaupt nahe kommen?
Die Natur ist ein Konzept, ein Mythos, ein kulturelles Konstrukt, das sich je nach Kultur und Zeit ändert, verschiebt und weiterentwickelt. Schlussendlich ist Realität nichts anderes als eine Erzählung. Jeder Mensch hat eine eigene Realität, die sich mit den Realitäten anderer Menschen überlappt. Daraus entsteht eine Metarealität, welche als Wirklichkeit wahrgenommen wird. Das Konzept der Natur ist wie ein Dach, unter dem wir leben und denken, das nicht von der Menschheit getrennt werden kann. Der Mythos von der Natur ist notwendig, um den Menschen Respekt vor ihr einzuflößen und sie uns verständlich zu machen, aber am Ende ist sie nur eine Fabel.