Hilferuf aus Brasilien

"Ich habe niemals eine Krise von solchem Ausmaß erlebt"

Brasilien steckt in zwei Krisen gleichzeitig: einer Pandemie und einem politischen Ausnahmezustand. Der Kurator Agnaldo Farias berichtet im Interview von untragbaren Zuständen in der Kulturszene - und ruft die Kunstwelt zu Solidarität auf


Agnaldo Farias, der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro scheint ein gespaltetes Verhältnis zu Kunst und Kultur zu haben. Auf der einen Seite kürzt er Förderungen für Kulturinstitutionen, auf der anderen Seite scheint er sehr bemüht, einen rechts-orientierten Kultursektor zu erschaffen.

Bolsonaro hat ein komplexes Verhältnis zu Kunst und Kultur, das die Zerstörung dessen, was schon existiert, genauso beinhaltet wie die Erschaffung eines anderen Modells. Auf der einen Seite reduziert er drastisch die Ressourcen für kulturelle Institutionen und setzt damit einige von ihnen völlig oder teilweise außer Kraft. Auf der anderen Seite möchte er ein kulturelles Programm faschistischen Ursprungs implementieren: homogen, nationalistisch und definiert durch die Verteidigung "der Werte der traditionellen, brasilianischen Familie", was auch immer das bedeuten soll. Es stellt sich heraus, dass er dafür keine Rückendeckung bekommt. Bolsonaros Kabinett erinnert stark an Mario Monicellis klassische Komödie "Die unglaublichen Abenteuer des hochwohllöblichen Ritters Branca Leone". In diesem Moment, in dem das Land zwischen zwei ernsten, miteinander verflochtenen Krisen untergeht – der Corona-Pandemie und der von ihm selbst geschaffenen und täglich befeuerten politischen Krise – ist Kultur die letzte seiner Sorgen.

2018 war die ganze Welt schockiert, als das Nationalmuseum in Rio de Janeiro in Flammen aufging. Das Feuer war die Konsequenz mangelnder Instandhaltung aufgrund von unzureichender Förderung. Hat die Empörung über den Brand irgendwelche direkten Konsequenzen ausgelöst?

Ironischerweise fiel die Verantwortung für den Brand der Universidade Federal do Rio de Janeiro zu, die mit dem Nationalmuseum verbunden ist. Ironisch deshalb, weil die UFRJ, Trägerin des Museums, seit Jahren die nötigen Mittel für die Instandhaltung einforderte. Weil diese nicht freigegeben wurden, musste das Museum wie erwartet leiden. Die Konsequenz kam in Form des Feuers und als unbestreitbarer Beweis dafür, dass der Zynismus der Regierung keine Grenzen kennt, wurde "das Opfer für schuldig befunden." Dieses Vorgehen war so absurd und die Reaktion der Bevölkerung derart solidarisch, dass Ressourcen, auch internationale, zugewiesen wurden, um den Wiederaufbau des Museums zu realisieren. Auch wenn eine Sammlung von unschätzbarem Wert unwiederbringlich verloren ist.

Wegen des Widerrufs öffentlicher Finanzierung und des bevorstehenden Rückgangs von Sponsorengeldern aufgrund des sinkenden BIP sind viele wichtige brasilianische Institutionen am Rande des Zusammenbruchs. Zwei von ihnen sind die brasilianische Cinematheque und das Tomie Ohtake Institute in São Paulo.

Der Fall der Cinemateca Brasileira unterscheidet sich stark von den Umständen für das Tomie Ohtake Institute oder die Museen für moderne Kunst. Die Gründung der Cinemateca Brasileira São Paulo geht zurück in das Jahr 1940 – seitdem hat sich die Institution der Verantwortung für die Konservierung und Verbreitung brasilianischer, audiovisueller Produktionen verschrieben. Es beinhaltet die größte Sammlung von unter anderem Film, Fotografie, Skripten, Storyboards, Postern und Büchern in Südamerika. Die Sammlung umfasst knapp 250.000 Filmrollen, einige davon Klassiker verschiedenster Nationalitäten, und circa eine Million assoziierte Objekte. Die Cinematheque ist an die staatlichen Strukturen angebunden, um genauer zu sein an das Ministerium für Kultur. So zumindest war es bis zum Beginn der Bolsonaro Amtszeit im Januar 2019, als der Status des Kulturministeriums herabgesetzt, und es als Kultursekretariat dem Ministerium für Tourismus untergeordnet wurde.  

Und dann?

Als wäre das nicht genug, ist das Kultursekretariat seit Monaten führungslos. In der Folge wurde kein kulturpolitischer Regierungsprogramm vorgestellt. Die Fördermittel wurden ausgesetzt, und folglich sind im Fall der Cinemateca Mittel zur Instandhaltung und Löhne von Angestellten längst überfällig. Vor dem Hintergrund, dass ein Teil der ältesten Sammlung auf Silbernitrat-Basis hergestellt ist, besteht die Gefahr, dass ein Feuer ausbrechen kann. Was 2016 auch geschehen ist – 0,4 Prozent der gesamten Sammlung ging dabei verloren. Institutionen wie das Tomie Ohtake Institute oder die Museen für moderne Kunst in São Paulo und Rio de Janeiro sind – auch wenn sie NGOs sind – in privater Hand. Daher sind sie abhängig von Sponsoring entlang der gültigen Förderregularien. Wegen der Vernachlässigung durch die Regierung, des sinkende BIPs und der Coronakrise müssen die Ausstellungshäuser während der auferlegten Schließzeit Ausgaben kürzen, Angestellte entlassen und Arbeitszeit reduzieren. Die Situation ist trostlos, und die Regierungen auf kommunaler, staatlicher und Bundesebene befassen sich bestenfalls mit ihren eigenen Institutionen.

Sie sind seit vielen Jahren als Universitätsprofessor tätig. Wie wird das akademische Umfeld durch Bolsonaros Kulturpolitik beeinflusst?

In meinen fast 40 Jahren als Professor an der Universität von São Paulo habe ich niemals eine Krise dieses Ausmaßes miterlebt. Genau genommen begann sie bereits vor der Bolsonaro-Regierung im Oktober 2018, als Polizeibeamte Veranstaltungen an öffentlichen Universitäten im ganzen Land unterbrachen und Protestbanner entfernten, die mangelnde Bezuschussung zur Instandhaltung der Gebäude, Lohnanpassungen, Stipendienprogramme und die Finanzierung von Forschung thematisierten. Im April 2019, mittlerweile in Bolsonaros Amtszeit, begann der Bildungsminister, Universitäten im Allgemeinen vorzuwerfen, sie seien Austragungsort der politischen Linken und Verbreiter einer ideologischen Bildung. Die Lehrenden wurden mit haltlosen Vorwürfen denunziert als Anstifter, die Studierenden als Provokateure und Drogenabhängige. Als eine der ersten Maßnahmen hat das Bildungsministerium 30 Prozent der Budgetzuweisungen dieser Universitäten gekürzt – eine Maßnahme die bald darauf auf alle staatlichen Universitäten übertragen wurde. Die Konsequenz: Studierende haben Stipendien verloren, Stellen wurden gestrichen und Erfahrungen wurden unbrauchbar gemacht.

Neben ideologischen Budgetkürzungen ist Zensur aktuell ein großes Thema in Brasilien. Eine der zahlreichen getroffenen Maßnahmen ist eine Zensur von LGBTQI*-Produktionen in Fernsehen und Theater. Wie viel Freiheit haben Institutionen bezüglich der Kuration ihres Programms noch?

Zum derzeitigen Zeitpunkt droht sämtlichen Produktionen, Kunstausstellungen oder Theateraufführungen, die sich mit Sexualität auseinandersetzen oder auch nur Nacktheit zeigen, die Beendigung, beziehungsweise die Schließung. Das fing aber bereits vor Bolsonaro an – immerhin hat ihn ja die konservative Welle erst in Regierungsposition gebracht.

Haben Sie ein Beispiel?

2017 wurde eine Ausstellung mit dem Titel "Queermuseu – Kartographien der Differenz in Brasilianischer Kunst" von dem betreibenden Ausstellungshaus, einem Kulturzentrum der Santander Bank, geschlossen – aus Angst vor einem rigorosen Gegenschlag des reaktionärsten Teils der Bevölkerung. Besondere Furcht gibt es gegenüber Kirchenanhängern, die die Präsenz von "obszönen Werken" kritisieren oder Vorwürfe formulieren, Ausstellungen dieser Art würden zu Pädophilie ermutigen und der christlichen Moral entgegenstehen. Es gab eine ganze Serie solcher Ereignisse. Im selben Jahr verbat das São Paulo Museum of Art, eines der wichtigsten Museen in Brasilien, Minderjährigen den Zugang zu ihrer Ausstellung über die Geschichte der Sexualität - aus Angst vor Protestreaktionen einer konservativen Öffentlichkeit. Je größer eine Institution ist und je mehr Reichweite sie dadurch hat, desto wahrscheinlicher muss sie sich auch solchen öffentlichen Attacken aussetzen. In diesem Sinne haben kleinere Institutionen und punktuelle Initiativen, die quasi unsichtbar sind für die Augen der Mainstream-Medien, bessere Chancen, Mikropolitiken in ihrem unmittelbaren Umfeld zu thematisieren und mitzugestalten.

Brasilien zählt zu den Ländern, die am stärksten von der Covid-19-Pandemie betroffen sind. Dennoch weigert sich Bolsonaro, entsprechende Maßnahmen zu treffen.

Wie ich bereits sagte, steckt das Land in zwei Krisen: der Pandemie und der politischen Krise. Obschon die erstere nicht von der aktuellen Regierung ausgelöst wurde, füttert das Verhalten des Präsidenten – ein Mann, dessen Unverantwortlichkeit und kampfeslustige Art die Aufmerksamkeit der gesamten Welt erregt – beide Krisen. Die Bevölkerung ist geteilt zwischen der Angst vor Erkrankung und dem Wunsch, ihren Unmut auf die Straße zu bringen. Das Ganze wird durch ein führungsloses Gesundheitsministerium verstärkt – wir haben seit über einem Monat keinen Minister für Gesundheit. Dieses Ministerium hält Informationen zurück und richtet sich nach der präsidentiellen Gangart, Wirtschaft gegenüber Menschenleben zu bevorzugen.

Wie reagiert der Kulturbetrieb darauf?

Die deutlichste Reaktion aus der Kunstszene ist die gewaltige Menge an Live-Videos auf Social Media, die Künstlerinnen und Künstler von allen Fronten  zusammenbringt: von den visuellen Künsten bis zur Musik kämpfen alle darum, ein Minimum an Mitteln aufzubringen, um zumindest ihr Überleben zu gewährleisten.

Sie waren als Kurator an mehreren São Paulo-Biennalen beteiligt. Welchen Einfluss hat die aktuelle Politik auf dieses Event, das einen hohen Stellenwert in der internationalen Kunstszene hat?

In Anbetracht der pandemischen Umstände und ihres Ausmaßes in São Paulo, kann nicht garantiert werden, dass das Leben in der zweiten Jahreshälfte zur Normalität zurückkehrt und dass die soziale Isolation beendet wird. Der Trend ist ein anderer. Öffentliche Universitäten haben mittlerweile beschlossen, dass Veranstaltungen bis Dezember virtuell fortgeführt werden. Entsprechend hielte ich es nicht für überraschend, wenn die Biennale verschoben wird. In Anbetracht der Besucherzahlen in den vergangenen Jahren, die zwischen 600.000 und eine Million lagen, halte ich es für unklug, jetzt eine Umsetzung der Biennale anzustreben.

Der Titel der diesjährigen Edition der Biennale lautet "Though it’s dark, still I sing". Glauben Sie, dass dieser Sinn für Resilienz, vielleicht sogar Hoffnung, noch immer verbreitet ist in der Kulturwelt?

In seinem 70-jährigen Bestehen und Bearbeiten zeitgenössischer Kunst ging diese Biennale durch viele, sehr ernste Krisen – und hat sie alle überstanden. Sie überlebte sogar 21 Jahre der längsten Militärdiktatur in ganz Südamerika. Widerstandswille und Hoffnung sind unsere Charaktereigenschaften, die jetzt, mehr denn je, mehr noch als zu Zeiten der Militärdiktatur, im Kampf um die Verteidigung der Demokratie  und seiner Institutionen, im Kampf um die Freiheit zum Tragen kommen. Unsere Elite mit Sklavenhalter-Vergangenheit wird keinen Millimeter abrücken ohne die Stärke der Demonstrationen, die in den Straßen unserer Städte beginnen werden und bereits begonnen haben.

Was können Akteure der internationalen Kunstwelt tun, um zu helfen?

Wir müssen näher zusammenrücken, wir alle, um uns dessen gewahr zu werden, dass dieser Planet unser Erbe ist. Alle Kämpfe sind von unserem Interesse, es sind unsere eigenen Kämpfe. Und Kunst ist einer unserer Rammböcke, durch den wir neue Grenzen öffnen können. Ja, wir brauchen die Solidarität von Künstlern, Kritikern, Journalisten, Sammlern und den Einsatz aller denkbaren Zusammenschlüsse von Akteuren.