Bilder und Klischees

Was die Fotografie heute noch taugt

Foto: © Stefanie Moshammer
Foto: © Stefanie Moshammer
Stefanie Moshammer "truck and a car, 2017, a.d.S. I Can Be Her ", 2017

Die sozialen Medien bringen die Fotografie in eine Krise, wird oft behauptet. Dabei muss man sich nur in aktuellen Ausstellungen umsehen, um zu einem anderen Befund zu kommen

Auf meinem Notizzettel zu diesem Text steht in großen Buchstaben das Wort "PENIS", daneben der Name des Fotografen Juergen Teller. Man kann sich tatsächlich über diesen und jenen Penis wundern. Zum Beispiel über den von Lars Eidinger. Der Schauspieler darf wie ein kleiner Bub mit seinem Penis auf Instagram herumalbern, während sogar übervorsichtigste Fotos von Künstlerinnen, die ein bisschen Brust zeigen, wegen Anstößigkeit gelöscht werden. So eine Protzerei mit dem "Rohr" – der Witz ist nicht von mir, sondern von Bienchen387 oder so ähnlich – macht 6.170 Likes. 

Am Penis von Juergen Teller wurde derweil anderswo Anstoß genommen. Er, der Modefotograf, der mit Plattheiten und Craziness nur zu gern übertreibt, das sei vorweggenommen, hat zur Zeit keinen guten Lauf. Nachdem er, es ist jetzt auch schon wieder eine Weile her, zuletzt für Aufregung sorgte, weil er Kim Kardashian in Unterwäsche einen Erdhügel hinaufkrabbeln ließ, eine zugegeben geniale Idee, geht es jetzt im Internet wegen einer nicht so schönen Sache rund. Teller wird des Plagiats bezichtigt. Offenbar hat er es mit Anleihen bei der Künstlerin Mickalene Thomas für ein Vogue-Shooting mit Rihanna übertrieben. Beide werden von der gleichen Galerie vertreten – ein Zufall könne das also nicht sein, ist sich das Internet sicher. 

Sicher ist sich auch Daniele Muscionico in der "NZZ", dass Tellers Arbeiten schwächer werden. Ich kann diese Frustration verstehen. In Paris ging ich vor ein paar Monaten in die Galerie von Suzanne Tarasieve, um mir seine Einzelausstellung "Leg, Snails and Peaches" anzusehen. Und dann war da irgendwas mit Penis und Brustwarzen, viel mit Schnecken, Fröschen und Obst und noch mehr mit Tellern.

Der Fotograf, gewohnt schonungslos selbstironisch, liegt beispielsweise nackt auf einer Matratze vor einer Hauswand, er trägt bunte Socke und hält viele bunte Luftballons in der Hand. Dad Bods galten 2015 als sexy, wenn mich nicht alles täuscht, sexy will er sich aber sowieso nicht geben. "Tellers 'Self-reflections', kompositorisch zwar so stark wie in seinen Anfängen, huldigen keinem Vorbild mehr; sie verklären den Zynismus eines Künstlers, der Kunstideale für bankrott erklärt", schreibt Muscionico und folgert daraus: "Das Beispiel Juergen Teller ist ein Krisensymptom und zeigt, wie die zeitgenössische Fotografie als Konzeptkunst nicht nur ihren Ruf riskiert. Sie ist dabei, ihn zu verspielen: Sie verspielt ihn mit formalen Variationen über Klischees und Selbstreferenzen. Wo Message war, herrscht Manierismus." Gesucht werde eine neue Dringlichkeit, es sei unklar, wozu das Medium überhaupt noch taugt. 

Jetzt ist Tellers permanente Nacktheit sicherlich vieles, langweilig zum Beispiel. Daran lässt sich vielleicht auch noch ablesen, wie es um seine Ernährung und seine Gesundheit steht. Den Ruf des Mediums Fotografie riskiert und verspielt Teller bestimmt nicht, seinen eigenen vielleicht schon, das aber eher mit Plagiaten. Was natürlich schlimm ist, nur ein bisschen weniger eben. 

Egal wohin man schaut, seit es soziale Fotonetzwerke wie Flickr und Instagram gibt, wird der maßlose Bilderkonsum angeprangert, sobald es um Fotografie geht. Im Vorwort zum Katalog zur Retrospektive "Karte und Gebiet" des 1992 verstorbenen italienischen Fotografen Luigi Ghirri beispielsweise: "Die Bedeutung von Ghirris Vermächtnis ist auch heute ungemindert, in einer Zeit, die geprägt ist von der massenhaften Verbreitung von Bildern und der exponentiellen Vervielfältigung von Darstellungen der Welt, vom Ergötzen an diesen, von ihrem gleichgültigen Konsum und ihrer Auflösung innerhalb eines unergründlichen und nicht klassifizierbaren Atlas'." Unterzeichnet haben drei Direktoren, unter anderem des Jeu de Paume in Paris und des Museum Folkwang in Essen. Selbst das Werk eines Fotografen, das maßgeblich in den 70er-Jahren entstanden ist, muss sich heute beweisen, in einer Zeit, in der die Fotografie als Massenphänomen droht in den Bilderfluten zu ertrinken. So eine vielbemühte Metapher. 

Gerade macht wieder einmal ein Projekt auf Instagram die Runde, das entlarven möchte, wie elendslangweilig und einfallslos die Nutzer des sozialen Fotonetzwerks sind. "Insta Repeat", so der Titel, der auch schon alles sagt. Es geht um den Vorwurf der Wiederholung immer gleicher Bildformeln. @Insta_Repeat nimmt sich wie schon 2015 die @socalitybarbie mit der #liveauthentic-Landschaftsfotografie-Community ein Genre auf Instagram vor und dekliniert die immer gleichen Motive geduldig durch. Mensch an Klippe, Mensch vor Wasserfall, Mensch auf Gipfel über den Wolken, Mensch auf Autodach, Mensch in einem Kajak usw. usf. Die Landschaftsfotografie ist wie die Arbeit von Fashion-Bloggerinnen ein gefundenes Fressen für Instagram-Hater. 

Landschaftsfotos sind schön anzusehen, sorgen für Fernweh und Wow-Momente, weshalb sie auf Instagram besonders gut gehen, also viele Likes und Kommentare sammeln und damit zum Wachstum der auf Berge und Wälder, manchmal auch Wüsten und Seen spezialisierten Fotografen beitragen. Sie werden von Unternehmen beauftragt, um Fluglinien und Orte, Autos und Rucksäcke, Zelte und Whiskey zu bewerben. Also werden Motive geliefert, die für die Bildsprache des sozialen Netzwerks stehen und zudem Likes garantieren. Es geht schlichtweg um gut bezahlte Aufträge. Das ist, als würde man der "Bild"-Zeitung plötzlich empört vorwerfen, den immer gleichen provokanten Schund für hohe Auflagen zu produzieren. 

Wenn es nicht einzelne Fotografen sind, die für die Krise der Fotografie verantwortlich gemacht werden, ist es ein soziales Netzwerk, aktuell ist es Instagram, das mittlerweile eine Milliarde Menschen nutzen. Bei so vielen Nutzern kann gar nicht alles schlecht sein. Nur: Ist die Fotografie tatsächlich in einer Krise oder wird die Krise herbeigeredet, damit es dank eines Aufregers etwas zu reden gibt? 

Wer in den letzten Wochen und Monaten aufmerksam Zeitung gelesen und sich ein wenig in Großstädten in Kulturinstitutionen aufgehalten hat, der weiß, dass es dem Medium Fotografie nicht schlecht geht. Fotografen wie Andreas Mühe, Stefanie Moshammer und Thomas Albdorf machen von sich reden mit ihren Ausstellungen, die im C/O Berlin, in der König Galerie in Berlin, in den Deichtorhallen Hamburg, in der Freien Akademie Hamburg, im Westlicht Wien, im Fotografie Forum Frankfurt und unter anderem im Amsterdamer Foam zu sehen sind. Das Feuilleton überschlägt sich; man muss nur den Chefs dieser Institutionen, etwa C/O Berlin-Direktor Stephan Erfurt und Galerist Johann König auf Instagram folgen, um fast täglich auf Feuilleton-Aufmacher hingewiesen zu werden. 

Mühe, Moshammer und Albdorf kann man, wenn man denn möchte, das durchdachte Spiel mit Klischees vorwerfen. Bei Mühe ist es die kühle Nazi-Ästhetik, die den Betrachter herausfordert. Bei Moshammer ist es die amerikanische New Color Photography der 70er-Jahre, die den Sehgewohnheiten des Betrachters schmeichelt. Und bei Albdorf sind es Sujets wie Pizza und der David von Michelangelo, die den Betrachter für sich einnehmen.

Alle drei drängen sie dem Betrachter darüber hinaus Überlegungen auf. Mühe schüchtert mit seiner Petersburger Hängung ein, angesichts derer man sich erst einmal setzen muss, bevor man anfängt, über die Vergangenheit und die Gegenwart Deutschlands und den bedrohlichen Rechtsruck nachzudenken. Moshammer gibt – basierend auf persönlichen Erfahrungen mit Stalking – zu denken über "ein Amerika als seelischem Zustand", so Peter Richter in der "Süddeutschen Zeitung". Und Albdorf stößt ein Nachdenken über Bilder in Zeiten von maschinellem Lernen an. 

"Ich liebe Klischees", gibt er zu, er braucht sie aber auch für seine Arbeit, weil Maschinen aufgrund ihres häufigen Vorkommens mit Klischees lernen. Pizza beispielsweise ist in Software zum maschinellen Lernen am höchsten gerankt. Die Klischees locken die Betrachter an, sie funktionieren wie eine Venusfalle, sagt er, dann zerfällt alles. Vulkan oder Schwamm, Fotografie oder Manipulation? 

Das alles kann einen freilich ärgern, weil: zu kalkuliert. Man nehme ein bisschen Klischee, ein bisschen Narration und ein bisschen Konzept, fertig ist das Erfolgsrezept. Wer Fotografie erwartet, an die man glauben kann, wird vielleicht enttäuscht sein. Schlecht geht es dem Medium deshalb nicht, nur die eigene Erwartung wird enttäuscht. Aber das kennt man von guten Freunden – manchmal wird man enttäuscht.