Kunst in Marseille

Was die Manifesta vom Hip-Hop lernen kann

Die Manifesta 13 ist in Marseille ziemlich sang- und klanglos zuende gegangen, während die dortige Rap-Kultur die ganze Stadt elektrisiert. Dieser Gegensatz zeigt, wie die Kunst mit ihrem Anspruch scheitert, wirklich alle zu erreichen

Die Manifesta 13 Marseille unter dem Titel "Traits d'union.s" ging so unaufgeregt zu Ende, wie sie angefangen hatte. Durch den in Frankreich verhängten Teil-Lockdown Anfang November aufgrund der steigenden Corona-Zahlen musste die Biennale einen Monat früher schließen. Das war's. Stadtgespräch war sie sowieso nicht. Ihre Anwesenheit wurde hauptsächlich durch die Plakate mit dem Manifesta-Logo bezeugt. Zeitgleich zur leisen Vorbereitung und Ausstellungsdauer der Biennale lärmte es auf einem anderen, kulturellen Feld in Marseille gewaltig. Der Rap-Künstler Jul hypnotisierte die Stadt mit seinen Songs. Aus den offenen Autos bekam man unweigerlich gefühlt alle zehn Minuten seine Musik zu hören, niemand konnte ihm entweichen. Klar, es handelt sich hier um zwei komplett unterschiedliche künstlerische Bereiche und Verbreitungs-Mechanismen. Sie scheinen nicht vergleichbar zu sein, oder etwa doch? Da sie sich zur selben Zeit in der selben Stadt zutrugen, macht es doch nachdenklich.

Doch zunächst zu den Problemen der bildenden Kunstszene, die auch die Biennale nicht durchbrechen konnte. Auffallend für Marseille und die französische Sprache sind die immensen Komplexe der Künstler gegenüber Paris. Von einer Dezentralisierung der Kulturwelt kann noch keine Rede sein, die Kulturschaffenden aus der zweitgrößten Stadt Frankreichs werden immer noch als "Lokalkünstler" (les artistes locaux) degradiert, eben als bloße Komparsen im Schauspiel der Kunst. Nur die Pariser gelten als französische oder als internationale Künstler. Eine absurde Situation.

Die junge Generation, die ihre Praxis auf Reisen und Austauschprogrammen entwickelt, ist dabei, dies zu ändern. Sie öffnet temporäre Projekträume, veranstaltet Festivals, publiziert im Eigenverlag und sorgt für viel neue Energie in der Stadt. Das Wort "lokal" assoziiert sie eher mit Bio-Lebensmittelläden. Die Nachwuchskünstler sprechen über ihre Inspirationsquellen und wollen sich als individuell und international positionieren. Ihr Befreiungskampf aus dem Stigma "lokal" ist aber noch nicht in der Hauptstadt angekommen. Denn weiterhin gilt: Wer als französischer Künstler keine Galerie in Paris hat, existiert quasi nicht. 

Man musste die Biennale-Kunst oft suchen

Um Marseille als Kulturstadt zu stärken, entschied sich das dreiköpfige Kuratorenteam der Manifesta, Katerina Chuchalina, Stefan Kalmár und Alya Sebti, für eine fokussierte Zusammenarbeit mit den ansässigen Institutionen. Sichtbare Kunst im Außenraum gab es kaum. Auch in den Häusern musste man die Biennale-Kunst oft erst noch suchen und nicht selten das Aufsichtspersonal um Hilfe bitten. Die kannten das Problem und begleiteten den Besucher durch die Räume bis direkt vor das Werk, um dann, sicherheitshalber, noch einmal mit dem Finger darauf zu zeigen.

Die meisten Arbeiten waren kleinformatig. Die Präsentations-Praxis kann als ein "Unterjubeln" oder "Hineinschmuggeln" in die bestehenden Sammlungen und Innenausstattungen begriffen werden, weniger als ein "präsentes Ausstellen". Natürlich sind Aktionen wie die von Banksy witzig, der eigene Werke heimlich in Museumsausstellungen platziert und schelmisch darauf wartet, dass sie jemand bemerkt. Und auch bemängelt eine grundsätzliche Kritik oft das invasive Auftreten der Biennale-Ufos in einer Region.

Für die Situation in Marseille war diese Praxis aber problematisch, denn "eine Stärkung lokaler Potenziale", also das nachhaltige Vermitteln von Mut und Selbstbewusstsein an eine (junge) gegenwärtige Kunstproduktion wird so nicht erreicht. Statt konzeptuelle Verstecke und ausgeklügelte Nischen zu suchen, hätte es Konzepte für neue Präsentations-Bühnen im Scheinwerferlicht gebraucht, gerade um die "lokalen" Komplexe abzuschütteln. Vielleicht tut Demut einigen Mega-Biennalen aktuell ganz gut, aber sicher nicht den Künstlern vor Ort.

Keine Öffnung, sondern eine Auflösung

Ein anderes Problem ist die immer länger werdende Themenliste der Biennalen, besonders von der Manifesta 13 Marseille. Es ging um Migration und soziale Ungerechtigkeit, über Wirtschaft zu Ökologie, über Stadthistorie zu lokalen Potenzialen, Fürsorge, Institutionen, Sprache, über Architektur und Wohnungsnot zu Infrastruktur, Innovation, Kollektivität und multiplen Identitäten, um Einwanderer-Biografien, Kabel im Meer, Unterwasserwelten und darum, wie man ein neues Publikum in die Institutionen locken kann.

Diese Liste stellt keine Öffnung mehr da, sondern eine Auflösung. Denn gibt es doch kein Thema, das man nicht über wenige Ecken an diese Liste andocken könnte. So gesehen war die Manifesta 13 themenlos. Das, was von ihr übrigblieb, war ihr Logo. Die Biennale galt als finanzieller und kausaler Anstoß für Produktionen, ihre wahre Funktion verwirklichte sie am Anfang, nur hier ergab sie Sinn. Nahmen die einzelnen Projekte ihren Lauf, ergab sich kein roter Faden mehr. Die Identität der Biennale starb bei dem Realisierungsprozess, wie eine Biene nach ihrem Stich. Dies kann positiv als nachhaltiger, unabhängiger Ansatz für die einzelnen Teilnehmer gedeutet werden. Andererseits bedeutet das "Slow Curating" auch einen gewissen Verlust von Lautstärke, Aufmerksamkeit und vor allem von Greifbarkeit, besonders für die Besucher. Und bedeutet Letzteres nicht wiederum einen Verlust von Dialog und Relevanz?

 "Man nennt mich Ufo"

Auf dem musikalischen Kultursektor der Stadt stehen Präsenz, Aufmerksamkeit und spielerische Ungeniertheit auf dem Plan. Jul, dessen tanzbaren Rap man einst als Ufo im französischen Hip-Hop belächelte, nahm diese Kritik als Kompliment und drehte das Musikvideo "On m’appelle l’ovni" (Man nennt mich Ufo) und flog darin mit einem Motorrad und einem Alien über Marseille. Durch Jul wurde der Rap wieder einmal zum stärksten Aushängeschild und zur medienwirksamsten Kulturexpansion der Stadt. Seit vier Generationen, markiert durch IAM, Fonky Family, Psy 4 de la rime und Jul, steht Marseille nicht nur in der französischen Hip-Hop-Welt ganz vorne.

Juls neuester Streich: Er versammelte "eine Bande" um sich, bestehend aus seinen Marseiller Kollegen Sch, Kofs, Naps, Soso maness, Elams, Solda und Houari. Ihr Song "Bande Organisée", erschienen am 15. August (13 Tage vor der Manifesta-Eröffnung), wurde schon in den ersten 12 Stunden über 1 Millionen Mal auf YouTube abgespielt, belegte in kürzester Zeit den 10. Platz auf Deezer World, für die meistgehörten Tracks und überholte dabei die Black Eyed Peas, Lady Gaga und Billie Eilish. Die Bande gewann die Diamond-Auszeichnung, brach den Rekord für den französischen Rap in den internationalen Charts auf Spotify und wurden mittlerweile über 180 Millionen Mal auf YouTube gehört. Lief man durch die Stadt, hörte man "Bande Organisée" fast aus jeder Wohnung, aus jeder Bar und aus jedem Auto schallen. Einen Monat nach der Veröffentlichung gewann der Marseiller Fußballverein L’OM erstmals seit neun Jahren gegen Paris. Die Euphorie in der Stadt explodierte.

 

Man kann darüber streiten, wie man Juls Musik findet, aber es gibt Leistungen, die man anerkennen sollte. Jul macht deutlich, welche Stärke Kollektivität freisetzen kann. Er versammelte ältere und jüngere Rap-Größen in seinem Video und kreierte somit das Narrativ, dass in Marseille der Stolz auf die eigene Stadt-Identität mit großem Selbstbewusstsein ausgelebt wird. Im Clip sowie im Logo der Gruppe spielt die Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde eine zentrale Rolle, genauso wie der Fußballverein L‘OM – und beides als Zusammenspiel ist überraschend.

Hier wird ein (christliches) historisches Wahrzeichen der Stadt mit einem gegenwärtigen, populären Wahrzeichen des Fußballs verknüpft: Alt und Neu, Geschichte, Tradition, Architektur, Sport und Musik. Außerdem gilt L‘OM als starker Motor für Integration, kollektive Rituale und für die Selbstbehauptung gegenüber der Hauptstadt. Hier bündeln sich Kräfte, darum steigt der Fußballverein jetzt mit dem eigenen Label OM Records in die Musikwelt ein. Nach dem Vereinspräsident Jacque-Henri Eyraud ist L’OM "ein starker Hebel, um das künstlerische Potenzial der Bevölkerung freizusetzen."

Bunt, chaotisch und verspielt

Natürlich schwingen hier auch klare wirtschaftliche Absichten mit. Trotzdem ist ein so großer Zusammenschluss von verschiedenen jungen und älteren Kultur- und Wirtschaftsakteuren, Sportlern und Künstlern, der somit heterogene Gesellschaftsschichten durchdringt, sowie eine ganze Stadt in Ekstase versetzen kann, ein wirkungsmächtiger Auftritt auf dem kulturpolitischen Feld.

Im trashigen Video zu "Bande Organisée" wurde ungeniert gesampelt und collagiert, Blitze und Feuerwerke setzte man im 90er-Jahre-Retro in den Himmel, humoristisch wurden Rap-Klischees aufgegriffen und unerschrocken alle Bild- und Kulturelemente mithineingemixt, die sich anboten. Das Fußballstadion erscheint als Kulisse genauso geeignet wie die Kirche und die Bolzplätze in den Vierteln. Hauptsache bunt, chaotisch und verspielt wie ein Videospiel oder Storycollagen auf Instagram. Jul spielt mit allen (Klischee-)Fallen, in die er tappen könnte, er macht weiter, ohne Demut, ohne sich zu verstecken und erobert mit einer fast schon kindlich-trotzigen Zuversicht selbst seine Kritiker und die, die vorher nichts mit diesem Musikgenre anzufangen wussten.

Die Rap-Szene arbeitet sich an ihrer Stadt ab und reagiert auf politische, wirtschaftliche und soziale Probleme. Als ein von der Stadtregierung gänzlich vernachlässigte Wohnhaus am 5. November 2018 in der Rue d‘Aubagne einstürzte und 8 Tote unter sich begrub, drehte die Rapperin Keny Arkana das Musikvido "Tous les enfants de Marseille" mit Bildern der anschließenden Protestwelle.

 


Neben Imhotep und Shurik’n von IAM, kritisierte auch Arkana öffentlich, dass die Ausrichtung der Kulturhauptstadt Marseille sieben Jahre zuvor die Rap-Szene keineswegs würdigte oder miteinbezog. Die Künstler haben recht, denn für die allermeisten Institutionen und Entscheidungsträger der Stadt ist der Rap weiterhin nicht intellektuell genug, eben nur "Low-Culture" und höchstens für einige Sozialprojekte von Interesse. Keny Arkana verarbeitete diese kulturelle Ausgrenzung in ihrem Song "Capitale de la Rupture".

Eine Ausnahme ist das Museum für zeitgenössische Kunst (MAC), das örtlich gesehen ebenfalls ein Außenseitertum am Rande der Stadt fristet. Sein Leiter, Thierry Ollat, widmete dem Hip-Hop im Jahr 2017 eine Ausstellung, auch wenn ihm dafür nur sehr geringe finanzielle Mittel zur Verfügung standen.

 

 

Die Rap-Künstler aus Marseille müssen sich nicht um das Label "lokal" kümmern. Sie sind anerkannte Stars, die mit Stolz ihre Stadt vermarkten und gleichzeitig prägende Innovationen in der internationalen Musik- und Marketingbranche setzen. Damit senden sie kulturelle Impulse in die Hauptstadt und über die Landesgrenzen hinaus.

Sie stehen für Mut, Energie, Fokussiertheit, spielerische Leichtigkeit, Risikobereitschaft, Konsequenz und Selbstbewusstsein. Sie wollen gesehen werden und werden gesehen. Die Manifesta hingegen erschien wie ein schüchterner Besucher. Vielleicht hat die viele Kritik der vergangenen Jahre sie kleinlaut gemacht. Diesmal wollte sie möglichst unauffällig bleiben und dabei alles richtig machen. Dadurch hat sie viel verloren. Hätte sie sich nicht etwas von Jul und seinen Kollegen inspirieren oder ermutigen lassen können? Schließlich sind Sichtbarkeit, Kommunikation, Präsenz und Publikumsbindung auch für Biennalen und Institutionen ein essentielles Thema. Ja, wer hat letzten Endes den Bindestrich, den Trait d’union, besser umgesetzt?