Stefano Cagol

„Der 11. September ist die Mutter aller Daten!“

Herr Cagol, heute ist der 11. September, ein schicksalsreicher Tag. Müssen wir uns Sorgen machen?
Wir müssen uns immer und nie Sorgen machen. Am 11. September 1906 erfand Gandhi den Ausdruck „Satyagraha“, um die gewaltfreie Bewegung in Südafrika zu charakterisieren. 2007 hingegen entschied Russland am 11. September die Tests zur größten konventionellen Waffe aller Zeiten, den „Vater aller Bomben“, zu beenden.
 
In Deutschland wird der 9. November als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet. Ist der 11. September nun vielleicht der Schicksalstag der ganzen Welt?
Der 11. September ist vor allem das Datum des neuen Jahrtausends, denn damals wurde zum ersten Mal in der gesamten Weltgeschichte ein Datum selbst zum Symbol: Nine Eleven, wie der Tag im Allgemeinen seit dem Anschlag auf die Twin Towers im Jahr 2001 genannt wird. Für mich ist es aber auch ein zweideutiges, dramatisches Datum. Es ist nämlich gleichzeitig mein Geburtstag.
 
Taucht deshalb auch Ihr Geburtstag als Ereignis im Projekt auf?
Ich arbeite oft an Projekten, die an persönliche Orte und Zeiten gebunden sind. Ich habe auch mal ein Arbeit im Zusammenhang mit meiner Hochzeit gemacht. Dann fielen mir die vielen Aktionen und Events auf, die an Feiertagen zur Unabhängigkeit oder an Nationalfeiertagen stattfanden. Aber der 11. September ist die „Mutter“ aller Daten!
 
Ist Ihre Kunst denn politisch?
Natürlich. Geburt ist ein sehr politischer Akt, und ich bin sehr politisch. Und mein Geburtstag ist ein super-politischer Tag. Kunst ist einfach Politik.
 
In Ihrer Installation tauchen sowohl wichtige als auch eher unbedeutende Ereignisse auf. Gab es bestimmte Kriterien nach denen Sie die aufgelisteten Geschehnisse ausgesucht haben?
Die Liste ist eine Sammlung aus den italienischen, deutschen und englischen Versionen von Wikipedia. Ich wollte eine allgemeine Datenbank, die das kollektive Bewusstsein der Welt widerspiegelt – eine Art kollektives und offenes Archiv in fortwährender Entwicklung. Danach sortierte ich aus: Es ist meine persönliche Auswahl, es ist mein 11. September! Aber die Liste könnte natürlich endlos weitergeführt werden.
 
Interessant wäre ja, ob sich dahinter ein Muster erkennen lässt. Oder haben Sie eine Erklärungen, wieso das alles gerade am 11. September passiert ist?
Dieses Datum wurde in verschiedenen Ländern aus unterschiedlichen Gründen Teil der nationalen Geschichte. In Deutschland beispielsweise wurde am 11. September die Schlacht im Teutoburger Wald mit dem Sieg von Arminius beendet, während in Schottland am selben Datum Wallace gegen die englischen Truppen gewann und in Chile wird der 11. September gefeiert, weil es durch Pinochet zum Sturz Salvador Allendes kam.
 
Kann man da an Verschwörung denken?
In der Auswahl der Ereignisse, die ich über die Bildschirme laufen lasse, kann man sehen, dass Henry Hudson am 11. September die Manhattan-Insel entdeckte und dass die USA am 11. September damit begann, das Pentagon zu bauen. Mal ehrlich, wer hat bemerkt, dass die Attentäter von diesen Fakten wussten? Die Menschen brauchen symbolische Zeichen, Zeremonien, Tage und Tragödien.
 
Und warum soll Ihre Installation an vier verschiedenen Ausstellungsorten simultan gezeigt werden?
Das Projekt spiegelt sozusagen eine Karte meiner eigenen persönlichen Erfahrungen wider! Es beginnt am 11. September in Trention, wo ich geboren bin und endet in Brüssel, wo ich mein Atelier habe. Idealerweise durchzieht mein Projekt so das Zentrum Europas von Süden nach Norden, weil es in vier verschiedenen Nationen gleichzeitig stattfindet. Ähnlich wie ein Guerrilla-Angriff oder wie ein Terroranschlag. Oder wie der 11. September selbst!