Bettina Rheims über ihre Serie „Gender Studies“

„Jeder trägt beide Geschlechter in sich“

Bettina Rheims, ein gewisser Grad an Androgynie gilt nicht erst seit den 90er-Jahren als Schönheitsideal. Was ist das Faszinierende an Menschen, die sowohl weibliche als auch männliche Merkmale in sich vereinen? 
Auch wenn sich die meisten für ein Geschlecht entschieden haben, trägt jeder von uns beide Seiten in sich. Deswegen erzählen uns androgyne Menschen etwas über uns selbst. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber an manchen Tagen wache ich morgens auf und habe das Gefühl, mehr von einem Mann in mir zu haben als von einer Frau. Und darüber bin ich sehr glücklich.

Warum das?
Hätte ich diese männliche Seite nicht in mir, wäre ich wohl nie Fotografin geworden und hätte sicher nicht die Bilder gemacht, die ich gemacht habe. Sich eben nicht für eines von beiden entscheiden zu müssen, verleiht dem Leben eine große Schönheit.

Wie kamen Sie dazu, sich als Fotografin mit Menschen zu beschäftigen, die mit ihrer Geschlechtsidentität spielen?
Meine Faszination für das Thema begann Mitte der 80er-Jahre. Das war eine Zeit, in der die Angst vor Aids allgegenwärtig war und Teenager in dem Bewusstsein aufwuchsen, dass Sex den Tod bedeuten konnte. Manche von ihnen begannen deswegen damit, eine andere, ungefährliche Art der Verführung zu erkunden: das Spiel mit der Androgynie. Sie birgt die Möglichkeit, zugleich Mann und Frau zu sein. Ich habe diese jungen Leute damals für eine Bilderserie fotografiert. Das daraus entstandene und 1992 veröffentliche Buch „Modern Lovers“ war wahrscheinlich die erste Arbeit, die sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzte.

Damals fotografierten Sie mit Jugendlichen wie der damals noch unbekannten Kate Moss allerdings Menschen, die zwar mit ihrer Geschlechtsidentität spielten, aber in Sicherheit darüber aufgewachsen waren, ob sie Mann oder Frau waren. Das ist mit „Gender Studies“ nun anders.
Über die Arbeit an „Modern Lovers“ lernte ich Kim Harlow kennen, die erste Transsexuelle, die mir bis dahin begegnet war. Wir wurden Freunde und brachten mit „Kim“ ein gemeinsames Buch heraus. Durch sie wiederum traf ich andere Transsexuelle. Ich begann mich für ihr Leben zu interessieren und ihr Bedürfnis, ihr Geschlecht verändern zu lassen. Darauf entstand der Band „Les Espionnes“. Dann arbeitete ich wieder an anderen Dingen und verlor die Sache aus den Augen. Bis ich im vergangenen Jahr das Angebot behielt, die Bilder von damals erneut zu veröffentlichen. Doch ich beschloss stattdessen, lieber eine neue Serie anzufertigen. Ich wollte schauen, ob sich in den vergangenen 20 Jahren etwas verändert hatte.

Bei der Recherche bedienten Sie sich dieses Mal neuer Kommunikationsmethoden.
Ich veranstaltete ein Casting auf Facebook und kam so mit Leuten auf der ganzen Welt in Kontakt: Von Südafrika über Europa bis Lateinamerika. Anschließend sprach ich per Skype mit ihnen. Und ich fand nicht nur Transsexuelle, sondern auch einige, die gar nicht bereit sind, sich auf ein Geschlecht festzulegen. Die sich dafür entschieden haben, sich nicht zu entscheiden. Das war für mich das Faszinierendste: Dass es heute Menschen gibt, die sagen: „An manchen Tagen möchte ich ein Junge sein, an anderen lieber ein Mädchen.“

Die Ausstellung wird von einer Soundinstallation begleitet. Das ist eine Dimension, die es bislang so nicht gab in ihrem Werk.
Während des Skypens wurde mir klar, wie interessant die Stimmen derjenigen waren, mit denen ich da sprach. Wissen Sie, es ist heute so einfach, sein Aussehen radikal zu verändern. Mithilfe von Kleidung, Make-up oder Operationen kann aus einem Jungen ein sehr schönes Mädchen werden – und andersherum. Die Stimme jedoch lässt sich nur sehr schwer verstellen und so fielen meine Gesprächspartner irgendwann immer in ihre natürliche Tonlage zurück. Ich engagierte also einen Sounddesigner und der fertigte jedes Mal, wenn ich eine Person fotografiert hatte, Aufzeichnungen ihrer Stimme an. Erst beides zusammen, die Bilder und die Tonaufnahmen, ergeben die komplette Arbeit „Gender Studies“.

Anders als bei den Aufnahmen von vor 20 Jahren haben Sie bei „Gender Studies“ farbig fotografiert. Warum?
Wenn ich auf Bildern die Beschaffenheit der Haut herausstellen will – was hier der Fall war –, gelingt mir das besser mithilfe der Farbfotografie. Gleichzeitig sind die Bilder sehr blass, fast monochrom. Wie Erscheinungen.

Sie sagen, Sie wollten mit „Gender Studies“ erkunden, wie sich der Umgang mit Transsexualität, Travestie und Androgynie in den vergangenen 20 Jahren verändert hat. Was haben Sie herausgefunden?
So viel hat sich verändert! Es handelt sich nicht länger um ein Spiel. Viele derjenigen, die ich getroffen habe, erzählten mir, dass sie seit ihrem fünften Lebensjahr genau wussten, dass sie als Menschen geboren wurden, die ihr ganzes Leben dafür würden kämpfen müssen, jemand anders zu sein. Die Genderfrage stellt sich heute in viel größerem Ausmaß.

Der Australier Andrej Pejic, den sie auch für „Gender Studies“ fotografiert haben, ist ein erfolgreiches Model – und zwar sowohl für Frauen- als auch für Männermode. Das britische Männermagazin „FHM“ wählte ihn in die Liste der 100 sexyesten Frauen 2012. Der Deutsche Ethikrat hat im vergangenen Februar erstmals die Anerkennung von Menschen mit Intersexualität gefordert. Stehen wir an der Schwelle zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung? 
Ja, und darüber freue ich mich. Ich zeige nur einen sehr kleinen Teil dessen, was es mittlerweile überall auf der Welt gibt. Gerade als ich begann, an diesem Projekt zu arbeiten, erreichte in Australien jemand, dass in seinen Pass anstelle eines „männlich“ oder „weiblich“ ein „x“ eingetragen wurde. Es ist demütigend, wenn jemand, der aussieht wie Marilyn Monroe, am Flughafen mit einem Pass, in dem „Jim“ steht, durch eine Zollkontrolle muss. Aber so ist es momentan und das muss sich ändern.

Sie glauben also daran, dass es in ein paar Jahren ein drittes Geschlecht geben wird?
Absolut. Es mag noch einige Generationen dauern, aber es wird passieren. Allein schon, weil manche Leute eben so auf die Welt kommen. Bislang sind es die Ärzte, die über das Geschlecht dieser Kinder entscheiden und die Anzeichen des jeweils anderen ausradieren. Aber diese Menschen werden als das akzeptiert werden müssen, was sie sind. Viele Konservative werden das zu verhindern versuchen und diese Entwicklung wird nicht frei von Kämpfen vor sich gehen.

"Gender Studies", NRW-Forum Düsseldorf, bis 17. Mai