Zum Tode von Miroslav Tichý

„Was der Welt ähnlich war, habe ich belichtet“

Als die Kunstwelt Miroslav Tichý und sein Œuvre entdeckte, da war der Fotograf bereits im besten Rentenalter, und als einige Aufnahmen, von denen er angeblich zehntausende in seiner Wohnung hortete, schon für fünfstellige Summen verkauft wurden, habe er sie niemanden mehr geben wollen. Was seine Arbeit in der Logik des Marktes nur noch begehrter machte.

Gegenstand des plötzlichen Interesses war ein Werk nicht nur von Umfang, sondern auch von unheimlicher Stringenz. In den 60er-, 70er- und 80er-Jahren hatte Tichý in der mährischen Heimatstadt Kyjov, ein Kaff im Südosten Tschechiens, Frauen fotografiert: am Strand, auf Parkbänken, beim Sonnenbaden, auf dem Fahrrad – ein Bein, ein Lächeln, eine Pose. Frauen als Ziel der größten Sehnsucht: Unerreichbar fern erscheinen sie auf seinen Bildern und – was vielleicht am wichtigsten ist – unendlich frei und autonom. Auch wenn Tichý sie heimlich fotografierte, wirken sie durch seinen fotografischen Blick selten objektiviert und zum Opfer eines plumpen Voyeurismus' degradiert.

Das liegt vor allem an der Hingabe des Fotografens, seiner Scham und seiner Einsamkeit auch, die auf den Bildern sichtbar werden. Nicht nur hatte Miroslav Tichý seine Aufnahmen nachträglich übermalt und in selbstgebastelte Passepartouts eingefasst. Nicht nur sind auf vielen Abzügen seine Fingerabdrücke zu sehen und Spuren der Arbeit in der Dunkelkammer. Was die Fotos in ihrer Unschärfe und Überbelichtung vor allem so verklärt und unschuldig wirken lässt, sind die erstaunlichen Apparate, mit denen sie aufgenommen wurden. Tichý hat sie selbst zusammengebaut; Geschosse, die er stets aus der Hüfte abfeuerte.

Tichý hatte in den 40er-Jahren an der Prager Kunstakademie studiert und wurde als Maler und Zeichner ausgebildet. Die Tschechoslowakei wusste später nichts Besseres mit ihm anzufangen, als ihn in Psychiatrien und Gefängnisse einzusperren. Ein Leben lang galt er als zerzauster Sonderling, den man schließlich mit seinen komischen Apparaturen mehr oder weniger gewähren ließ.

Als Künstler entdeckt wurde er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs: Ein einstiger Nachbar, der Psychiater Roman Buxbaum, machte das Werk bekannt und fungierte als Vermittler. Besuch kam nach Mähren, von Künstlern, Galeristen, Kuratoren, Reportern. Tichý hatte da seine Produktion längst eingestellt, konnte aber mit zwar kargen aber wunderbaren Worten über seine Arbeit reden, mit rätselhaften Sätzen wie diesen: „Was der Welt ähnlich war, habe ich belichtet.“

Zuerst widmete ihm 2005 das Kunsthaus Zürich eine institutionelle Ausstellung, 2008 folgte das Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt, das auch 90 Arbeiten für die Sammlung ankaufte. Unter welchen Umständen  Arbeiten auf den Markt kamen, war immer wieder Gegenstand von Spekulationen. Fakt ist, dass der Erfolg den Künstler kaum beeindrucken konnte: Bis zuletzt lebte er in seiner Heimatstadt so wie er immer gelebt hat, umgeben von seinem ungeheuren Werk und allem, was der Welt ähnlich war. Am Dienstag ist der große Fotograf Miroslav Tichý nun mit 84 Jahren gestorben.