Neues Ausstellungsformat

300 Tage Kunst

Wo das Zentrum für politische Schönheit auftritt, darf man sich auf Medienrummel gefasst machen. Im November 2014 erregte die Berliner Künstlergruppe um Philipp Ruch mit dem Klau von Mauerkreuzen Aufsehen, die sie zeitweise aus der Hauptstadt an die EU-Außengrenzen versetzten. 2012 wurden die Aktivisten sogar verklagt: Sie hatten auf Fahndungsplakaten und im Internet 25 000 Euro Belohnung für Hinweise ausgelobt, die die Eigentümer des Panzerkonzerns Krauss-Maffei Wegmann ins Gefängnis bringen.

Zum Auftakt der Karlsruher "Globale", die anlässlich des 300-jährigen Stadtjubiläums erstmals stattfindet, treten die Mitglieder der Gruppe nun selbst als Kläger auf: Vom 19. bis 21. Juni werden sie gemeinsam mit Peter Weibel, dem Leiter des hiesigen Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM), einen Prozess gegen das 20. Jahrhundert inszenieren. An drei aufeinanderfolgenden Tagen soll sich dieses im ZKM bitte endlich für die Verbrechen der Moderne verantworten: Auschwitz, Hiro shima und die Ausbeutung der Erde. Die Performance illustriert recht anschaulich, was dem 70-jährigen Weibel für sein neues Mammutformat einer 300-tägigen "Globale" vorschwebt: keine reine Kunstschau, sondern vielmehr eine riesige öffentliche und interdisziplinäre Diskussionsplattform.

Das Rahmenprogramm ist breit: Neben 16 Ausstellungen soll es in Karlsruhe von Juni 2015 bis April 2016 auch zahlreiche Lesungen, Vorträge, Konzerte und Talks geben. Unter anderem sind vier große Konferenzen geplant, die zum Beispiel thematisieren, welche Konsequenzen es für Mensch und Umwelt hat, dass die natürliche Evolution inzwischen durch die sogenannte Exo-Evolution abgelöst wurde: eine Entwicklung, in die der Mensch mithilfe der Technik steuernd eingreift.

Zu den 200 Teilnehmern, die zur "Globale" eingeladen sind, zählen nicht nur Künstler, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Forschung agieren. Der französische Anthropologe Bruno Latour setzt sich mit Fragen der Klimaforschung auseinander. Und die japanische Kuratorin Yuko Hasegawa untersucht, inwiefern digitale Innovationen unseren Körper und die Mimik beeinflussen – etwa dann, wenn bereits Kleinkinder Wischbewegungen auf einem iPad erlernen. Auch das Karlsruher Institut für Technologie soll in das Programm mit eingebunden werden.

Für rund zehn Monate soll die "Globale" Karlsruhe in ein Laboratorium für Ideen und Debatten verwandeln. Die gesamte Großveranstaltung ist damit ein Stück weit selbst Performance – zumindest wenn man dem Kunstverständnis von Peter Weibel folgt. Dieser ist nicht von ungefähr zugleich Künstler und Kurator und überzeugt: "Die Aufgabe der Kunst besteht darin, Türen zu öffnen, wo sie keiner sieht. Der Künstler hält optionale Handlungsfelder offen – als kritischer Spiegel oder utopisches Reservoir." Man darf gespannt sein, ob sich die vier Millionen teure Veranstaltung in Zukunft als wiederkehrendes Format etablieren wird oder ob sie ein einmaliges Experiment bleibt.

"Globale", Karlsruhe, Juni 2015 bis April 2016